Proteste in Russland "Katalysator für aufgestaute Probleme"
Vielen Teilnehmern der landesweiten Demonstrationen in Russland gehe es um mehr als Unterstützung für Kremlkritiker Nawalny, sagt ARD-Korrespondentin Ina Ruck. Sie erklärt, was den Protest von früheren unterscheidet.
tagesschau.de: Was unterscheidet die Proteste vom Wochenende von anderen, vorherigen Kundgebungen?
Ina Ruck: Für mich war es überraschend, dass es so viele waren, die da auf die Straße gingen. Ich hätte einige Tausend Teilnehmer in Moskau erwartet, aber es wurden dann ja nach verschiedenen Schätzungen zwischen 15.000 und 20.000 Leute. Obwohl die Demonstration verboten war, obwohl Staatsmedien massiv vor einer Teilnahme gewarnt hatten. Landesweit haben mehrere Zehntausend protestiert. Für deutsche Verhältnisse klingt das wenig, aber hier ist das viel. In mehr als 100 Städten gingen Leute auf die Straße - sogar in Orten wie Derbent im eher obrigkeitshörigen Dagestan gab es einen kleinen Protest.
Und: Viele waren offenbar zum ersten Mal dabei. Ich habe auf dem Rückweg von der Demonstration zwei junge Männer im Bus gesprochen, die sagten, sie waren immer gegen diese Protestiererei, aber jetzt sei es an der Zeit.
Tausende Verhaftete und viele Verletzte: Das Vorgehen der russischen Polizei sorgte auch international für Empörung.
tagesschau.de: Ist die Unterstützung für den Kremlkritiker Alexej Nawalny ausschlaggebend für die, die an den Demonstrationen teilnahmen?
Ruck: Nawalny spielt natürlich die entscheidende Rolle, in vieler Hinsicht. Er hat diesen Protest ausgerufen, er hat den Inhalt geliefert mit seinem Film über den, wie er sagt, "Palast für Putin". Und was nicht zu unterschätzen ist: Er hat auf seinem YouTube-Kanal einem Millionenpublikum seit Sommer immer wieder die belarusischen Proteste gezeigt. Im Staatsfernsehen bekam man die kaum zu sehen oder nur in sehr abwertender Weise als "Tumulte" präsentiert. Ich kenne viele hier in Russland, die mit Bewunderung nach Belarus schauen.
Bei den russischen Protesten geht es allerdings längst nicht nur um Nawalny. Er ist eher so eine Art Katalysator für all die aufgestauten Probleme der Leute. Vielen geht es wirtschaftlich schlecht, viele hat es geärgert, wie die letzten Regionalwahlen abgelaufen sind, viele glauben auch den offiziellen Bekanntgaben in Sachen Coronavirus nicht.
"Es gibt nicht diese eine, alle einende Ziel"
tagesschau.de: Wenn es nicht nur um Nawalny geht, gibt es einen einigenden Gedanken bei den Demonstranten, ein gemeinsames Ziel?
Ruck: Das ist in meinen Augen der größte Unterschied zu Belarus: Es gibt nicht dieses eine, alle einende Ziel. Abgesehen von der Freilassung Nawalnys - die wollen wohl alle, die am Samstag auf die Straße gegangen sind. Korruptionsbekämpfung, Nawalnys wichtigstes Thema, ist auch allen ein Anliegen, und wenn man sich die Aufnahmen aus den Städten in der Provinz anschaut, so fällt auf, dass sie an vielen Orten auch "Putin ist ein Dieb!" rufen.
Aber das allein macht noch keine Bewegung. In Belarus sehen wir neben dem Kampf gegen Machthaber Alexander Lukaschenko eine Art Identitätsfindung eines kleinen Volkes, das sich seiner Eigenständigkeit in Abgrenzung zum "großen Bruder Russland" immer bewusster wird. Das gibt der Bewegung dort nochmal eine ganz besondere Kraft.
tagesschau.de: Korruption, Misswirtschaft, Druck auf Andersdenkende - all das sind in Russland keine neuen Phänomene. Wieso treiben sie jetzt so viele Menschen auf die Straßen?
Ruck: Es gab andere Anlässe, zu denen weit mehr Menschen auf die Straße gegangen sind als jetzt am Sonntag: Nach den Dumawahlen 2011 zum Beispiel, und in Moskau auch nach den Regionalwahlen 2019. Diesmal, so mein Eindruck, sind es einfach "neue" Menschen, die dabei sind - Menschen, die durch die Ereignisse der vergangenen Jahre erst politisiert worden sind. Für sie spielt sicherlich auch die Figur Nawalny eine große Rolle, der auf YouTube eine Art Gegenfernsehen macht: Man bewundert seinen Mut, er erzählt seine Recherchen in sehr amüsanter Weise, viele sehen ihm gern zu.
Der Protest gegen die Regierung zog sich durch ganze Land - auch im sibirischen Omsk brachten Russen ihren Unmut zum Ausdruck.
"Putins Unterstützung in ländlichen Gegenden am höchsten"
tagesschau.de: Macht es die russische Regierung besonders nervös, dass auch in der Provinz Protestaktionen Zulauf hatten?
Ruck: Moskaus Bevölkerung gilt als politisch eher liberal - dass hier und in den anderen großen Metropolen demonstriert wird, damit kann man umgehen. Diesmal aber waren tatsächlich auch weit abgelegene, kleinere Orte beteiligt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das den Kreml beunruhigt.
Denn Putins Unterstützung ist gerade in den ländlichen Gegenden und in den kleineren Städten am höchsten. Das hat auch viel damit zu tun, dass in der Provinz das Fernsehen immer noch erste und wichtigste Nachrichtenquelle ist, während in den Städten - und ganz besonders bei den Jungen dort - soziale Medien das Fernsehen längst überholt haben. Wenn es nun auch auf dem Land erste Protestansätze gibt, dann bedeutet das, dass Nawalny mit seiner YouTube- und Instagram-Präsenz auch dort gehört wird.
tagesschau.de: Was bedeutet das Wochenende für Nawalny? Muss er womöglich mit einer harten Strafe rechnen, die andere abschrecken soll?
Ruck: Ich glaube nicht, dass das Protest-Wochenende viel an seiner zu erwartenden Strafe ändert. Sicherlich sind die Proteste beunruhigend für den Kreml, aber beunruhigender ist die Tatsache, dass Nawalny zurückgekommen ist: Dass er quasi allen zeigt, dass er keine Angst hat - und sogar gleich eine neue Recherche nachschiebt. Er hat die Geheimdienste jetzt schon zum zweiten Mal bloßgestellt: zum einen mit seinem Telefonanruf, mit dem er einen Agenten überrumpeln konnte. Und zum anderen ist es ihm gelungen, eine Drohne über dem geheimen Anwesen in Gelendschik fliegen zu lassen - obwohl die dortige Flugverbotszone vom FSO, dem Wachdienst des Kreml, kontrolliert wird.
Mit einer Strafe muss er rechnen. Wie hoch die ausfällt, könnten wir schon Anfang Februar sehen: Gut möglich, dass er gleich am ersten Prozesstag verurteilt wird. Es geht um die Verletzung seiner Bewährungsauflagen: Wegen seines Deutschlandaufenthalts hat er sich nicht bei den russischen Behörden vorgestellt. Die Gegenseite argumentiert, dass er gleich nach seiner Gesundung den Termin hätte wahrnehmen können. Der neue Putin-Film macht dem Staatsanwalt die Argumentation noch leichter: Nawalny hat ihn noch in Deutschland gedreht, war also gesund genug zu arbeiten. Doch Nawalny selbst scheint das alles egal zu sein. Er will zeigen, dass er keine Angst hat, und er hofft auf die Unterstützung der Leute.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de