Weniger Geburten Mehr Zuwanderung - in Japan noch tabu
Der Bevölkerungsrückgang in Japan nimmt immer dramatischere Züge an. Die Politik will gegensteuern und die Familienförderung verbessern. Um das Thema Einwanderung macht sie weiter einen Bogen.
In Japan ist neulich wieder eine Großstadt verschwunden. Rein statistisch gesehen. Denn im Jahr 2022 ist die Bevölkerung nach Schätzungen um mehr als eine halbe Million geschrumpft. Und die Abnahme wird sich beschleunigen, erwarten Fachleute.
Es ist wie ein Leiden, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Die Politik sucht seit Jahren nach Gegenmitteln. Trotzdem ist die Zahl der Neugeborenen auf ein Rekordtief gesunken.
Weniger als 800.000 Babys kamen im vergangenen Jahr in Japan zur Welt - so wenige wie noch nie seit Beginn der nationalen Aufzeichnungen im Jahr 1899.
Der Rückgang zeigt sich überall
Ein Ende des Absturzes ist nicht in Sicht. In vielen Landgemeinden gibt es nicht mehr genug Kinder, um die Klassenräume zu füllen. Zwischen 2002 und 2020 mussten mehr als 8500 Schulen schließen.
In der Wirtschaft mangelt es an Arbeitskräften. Sogar im Verkehrswesen fällt der Schwund auf. Mehr als 1000 Kilometer Buslinien werden jedes Jahr gestrichen, weil die Fahrgäste ausbleiben.
Familienförderung im Fokus
"Entweder jetzt oder nie": Mit diesen Worten rief Japans Regierungschef Fumio Kishida Anfang der Woche zum Kampf gegen den Geburtenrückgang auf. Japan müsse handeln, sonst werde die Gesellschaft bald nicht mehr richtig funktionieren.
Die Familienförderung stellte der Premier in den Mittelpunkt seiner Eröffnungsrede zur neuen Sitzungsperiode des Parlaments. Er wolle die junge Generation finanziell besser absichern, damit wieder mehr Kinder geboren werden. Er werde sich persönlich bei Familien erkundigen, welche Hilfe sie benötigten.
Abwärtsspirale kaum zu stoppen
Doch reicht das, um Japan vor der großen Leere zu retten? Toshihiro Menju sieht das Problem nicht nur in der Familienpolitik. Während Premier Kishida im Parlament spricht, klärt der Experte für internationale Fragen in Tokio ausländische Journalisten über das ganze Ausmaß der Malaise auf.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Zahl der japanischen Frauen im gebärfähigen Alter auf absehbare Zeit relativ gering bleibt. Weil es heute weniger Mädchen gibt als früher, würden auch später nicht genug Kinder geboren, um den Verlust auszugleichen, meint der Experte. Diese Abwärtsspirale könne Japan aus eigener Kraft nicht beenden.
Über Einwanderung reden
Menju ist Direktor der unabhängigen Stiftung "Japan Center for International Exchange" (JCIE), die Japans Austausch mit der Welt analysiert. Seine Botschaft ist klar: Die Wende könne das Land nur schaffen, wenn es ein Tabu bricht. Das heißt: Über Einwanderung reden. Es sei "höchste Zeit", die strenge Migrationspolitik zu überdenken.
Wie viel Homogenität soll es sein?
Populär ist diese Meinung in Japan nicht. Kein anderes Industrieland ist in der Bevölkerungsstruktur so homogen. Viele wollen, dass es so bleibt.
Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung ist vergleichsweise gering. Arbeiter aus anderen asiatischen Staaten dürfen nur als "technische Praktikanten" ins Land, haben keine Bleibeperspektive. Sie fristen ein Dasein am Rande der Gesellschaft.
Zwar hat die Regierung inzwischen auch ein spezielles Programm für Hochqualifizierte aufgelegt, denen ein längerer Aufenthalt ermöglicht werden soll. In der Pandemie blieben die Zahlen aber noch hinter den selbst gesteckten Zielen zurück.
Ruf nach Neustart
Japan müsse seine Migrationspolitik neustarten, meint Toshihiro Menju. Nur so habe es eine Chance, den Bedarf an Arbeitskräften in der Zukunft abzudecken, und den Bevölkerungsrückgang zu bremsen.
Eine ungesteuerte Einwanderung ist für ihn nicht wünschenswert. Japan müsse vielmehr definieren, welche Zuwanderer es benötige, und wie viele. De facto habe der Zuzug von Arbeitsmigranten ja schon begonnen, wenn auch in geringem Ausmaß.
Dazu solle sich die Regierung gegenüber den Bürgern offen bekennen, so sein Appell. Vergleichbare Worte im Parlament fielen an diesem Tag nicht.