Ein Einsatzwagen der israelischen Polizei in Jerusalem (Archivbild: 2022)

Umstrittene Festnahmen Versucht Israels Polizei, Kritiker einzuschüchtern?

Stand: 10.07.2024 14:50 Uhr

Nimmt die israelische Polizei Menschen fest, um sie einzuschüchtern? Das behaupten Menschenrechtler. Sie sehen den Versuch, Kritiker mundtot zu machen - und die Meinungsfreiheit eingeschränkt.

Von Nadja Armbrust und Pia Steckelbach, ARD Tel Aviv

Hussein Manaa lehnt sich im Bürostuhl seiner Kanzlei zurück und zündet sich eine Zigarette an. Dann wählt er die Nummer seiner Mandantin. Er weiß, dass dieses Gespräch dauern wird.

Seit dem 7. Oktober, erzählt er, vertrete er viele Fälle, bei denen es um Meinungsäußerungen und ihre Folgen geht. Viele seiner Mandanten hätten ihm von untypischen Festnahmen erzählt, doch erst im Fall der Frau, die jetzt am anderen Ende der Leitung abhebt, gibt es ein Video dieser Festnahme - und das ging viral.

Die Frau ist Rasha Harami, israelische Staatsbürgerin arabischer Abstammung. Im Beisein ihres Anwalts gibt sie am Telefon ein Interview - eine seltene Ausnahme, denn seit ihrer Festnahme Ende Mai vermeidet sie öffentliche Äußerungen.

Hussein Manaa an einem Schreibtisch - zu sehen ist außerdem eine Mikrofon mit einem BR-Logo

Hussein Manaa ist der Anwalt von Rasha Harami und erhebt schwere Vorwürfe gegen die israelische Polizei.

Gefesselt und mit verbundenen Augen

Es ist der 29. Mai, ein Mittwochnachmittag. Harami betreibt in Majd al-Krum, einer Kleinstadt im Norden Israels, einen Kosmetiksalon. Dorthin seien Polizisten gekommen, erzählt sie, hätten sie mitgenommen, zuerst zu ihr nach Hause, dann zur lokalen Polizeistation.

Das Video, das später in sozialen Netzwerken bekannt wird, beginnt, als Harami auf dem Polizeigelände angekommen ist. Sie steht noch am Auto. Die Polizisten erklären ihr, dass sie sie filmen. Sie blickt etwas verunsichert in die Kamera, wehrt sich nicht, als sie ihr die Augen mit einem Tuch verbinden und ihre Hände mit Kabelbindern fesseln.

Polizisten weisen sie an, trotz verbundener Augen und gefesselter Hände ihre Sporttasche selbst zu tragen. Doch Harami sieht nichts, deshalb fällt ihr die Tasche herunter. Dann endet das Video.   

Zurück bleiben viele Fragen: Warum wurde Harami festgenommen? Warum wurden ihr, obwohl sie sich bereits auf dem Polizeigelände aufhielt, die Augen verbunden und die Hände mit Kabelbindern gefesselt? Warum wurde das Video davon öffentlich? Kurzum: War es eine Machtdemonstration durch die israelische Polizei?

"Akt der Erniedrigung"

Ihr Anwalt erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizisten. "Das war ein absichtlicher Akt der Erniedrigung, damit sie eine Lektion lernt und nie wieder ihre Meinung äußert", sagt Manaa. "Das Video wurde veröffentlicht, um Angst zu schüren, dass Menschen so etwas erwartet, wenn sie ihre Meinung über den Krieg in Gaza äußern."

Die Polizei lässt sämtliche Fragen der ARD zum Fall unbeantwortet, schreibt lediglich, dass man die Verdächtige festgenommen habe, weil Posts von ihr gegen israelische Soldaten und Regierung den öffentlichen Frieden stören könnten. Um welche Posts es sich genau handelt, schreibt die Polizei nicht.

Haramis Anwalt berichtet, es gehe darum, dass seine Mandantin Kritik an zwei Vorgängen geübt habe und dafür nun beschuldigt werde. So habe Harami nach Medienberichten über Bombardierungen in Rafah geschrieben, dass Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Kinder verbrenne und ihm die Verantwortung für diese Ereignisse zugeschrieben. 

In einem weiteren Post habe sie kritisiert, dass der Staat diejenigen nicht zur Verantwortung ziehe, die 'Tod den Arabern' rufen. Es gebe täglich Demonstrationen von extrem rechten Juden, bei denen der Slogan gerufen werde. Harami habe das so kommentiert: "Wie können sie das rufen, wenn es Araber im Militär gibt? Wie kann das Land darüber schweigen?"

Es seien Posts ohne Hetze oder Sympathie mit einer Organisation gewesen, betont der Anwalt. Zeigen könne er die Posts allerdings nicht, denn Haramis Handy sei noch bei der Polizei.  

Kritik von der Staatsanwaltschaft

Die Polizei antwortet auf Anfrage auch nicht darauf, warum Harami die Augen verbunden und ihre Hände mit Kabelbindern gefesselt wurden. Auch hier beklagt ihr Anwalt: "Die Kabelbinder sehen wir bei Verhaftungen in Gaza oder im Westjordanland. Es ist verboten, israelische Staatsbürger damit zu verhaften, dafür gibt es keine legale Rechtfertigung. Deshalb haben sie die Kabelbinder abgenommen, bevor ich zu ihr gelassen wurde."

Wenige Tage nach Haramis Festnahme kritisiert die Staatsanwaltschaft in einem Statement das Verhalten der Polizei und schreibt, unter Bezugnahme auf den Fall: Man wolle klarstellen, dass die Untersuchung von Straftaten zur Volksverhetzung einer vorherigen Genehmigung der Staatsanwaltschaft bedürfe.

Eine Untersuchungsgenehmigung sei im vorliegenden Fall nicht beantragt und daher auch nicht erteilt worden. Und der Grund für die Entscheidung der Polizei, der Verdächtigen Plastikhandschellen anzulegen und ihre Augen zu bedecken, erschließe sich nicht.

Die Polizei ist Israels rechtsextremem Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, unterstellt. Der reagierte prompt auf die Kritik der Staatsanwaltschaft. Auf der Plattform X schreibt er, das Statement der Staatsanwaltschaft zugunsten einer Terrorunterstützerin sei ein Akt gegen den Staat.

Mehr als 1.000 Festnahmen

Sämtliche Fragen der ARD zu Hintergründen, zur Art und Weise der Festnahme, möglichem Fehlverhalten der Polizei und daraus folgenden Konsequenzen lässt das Ministerium für Nationale Sicherheit bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Haramis Anwalt hat Beschwerde gegen die Polizei eingereicht. Doch Konsequenzen erwartet er nicht.

Die Menschenrechtsorganisation Adalah hat bei der israelischen Polizei mithilfe eines Antrags, der sich auf die Informationsfreiheit beruft, abgefragt, wie viele Menschen seit dem 7. Oktober wegen unangemessenen Verhaltens, das den öffentlichen Frieden stören könnte, festgenommen wurden. Hierfür braucht die Polizei keinen Beschluss der Staatsanwaltschaft.

Die Organisation selbst stellt fest, vom 7. Oktober 2023 bis Ende März diesen Jahres seien mehr als 1.130 Personen unter dem Vorwurf festgenommen worden. Die Zahl ist fast dreimal so hoch wie die Zahl derer, die offiziell wegen Aufstachelung zu Terrorismus und beziehungsweise oder Identifizierung mit Terrororganisationen festgenommen wurden. Dafür braucht die Polizei die Genehmigung der Staatsanwaltschaft.

"Einsatz, um Meinungsfreiheit einzuschränken"

Der Medienkoordinator von Adalah, Ari Remez, sagt, die Polizei missbrauche systematisch rechtliche Verfahren, um Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft zu bestrafen - und abzuschrecken. Seit Beginn des Krieges würden Polizisten Fotos und Videos von verhafteten Personen in sozialen Netzwerken veröffentlichen, um sie zu demütigen.

Harami sei kein Einzelfall, doch erst ihr Video ging viral. Das liege daran, dass die Welt, anders als zu Beginn des Krieges, nicht mehr nur auf Gaza schaue. Und die Staatsanwaltschaft stehe unter Druck zu beweisen, dass sich in Israel an Gesetze gehalten wird.

Als hauptverantwortlich für das Verhalten der Polizei sieht Adalah Minister Ben Gvir: Er setze die Polizei ein, um die Meinungsfreiheit rechtswidrig einzuschränken. Im Fall von Rasha Harami hat es funktioniert. "Ich veröffentliche keine emotionalen Posts mehr, like sogar nichts mehr. Ich habe Angst, denn die Augen sind auf mich gerichtet."