Amnesty zu Zuständen im Iran Bericht über sexualisierte Gewalt an Protestteilnehmern
Iranische Sicherheitskräfte haben 2022 im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten Frauen, Männer und Minderjährige in Haft vergewaltigt und gequält. Das geht aus einem aktuellen Bericht von Amnesty International hervor.
Sie hatte an einer Demonstration in Teheran gegen das Regime der Islamischen Republik teilgenommen und öffentlich ihr Kopftuch abgelegt - so wie Tausende Frauen im Iran während der Proteste 2022. Dann wurde sie von Revolutionsgarden festgenommen und während ihrer zweimonatigen Untersuchungshaft mehrfach vergewaltigt. So schildert Amnesty International in einem aktuellen Bericht, was einer "Maryam" genannten Frau und vielen weiteren während der Frauenproteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini widerfahren sein muss.
"Hier gibt es keinen Gott"
Vom Moment der Festnahme an schildert Maryam in einem Gedächtnisprotokoll, sei sie mit Obszönitäten beschimpft worden. Während ihrer Vernehmung hätten Revolutionsgarden sie vergewaltigt und gedroht, auch ihre Schwester herzubringen und vor ihren Augen ebenfalls zu vergewaltigen. Als sie die Polizisten der Islamischen Republik unter Berufung auf Gott angefleht habe, von ihr abzulassen, habe einer ihr entgegnet: "Hier gibt es keinen Gott. Wir sind euer Gott. Wir werden euch begraben, und niemand wird es herausfinden."
45 solcher Fälle dokumentiert der Bericht. 26 Männer, zwölf Frauen und sieben Minderjährige beschreiben darin Vergewaltigungen, Gruppenvergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt durch Angehörige des Geheimdienstes oder der Sicherheitskräfte. Medizinische Versorgung hat laut den übereinstimmenden Schilderungen niemand von ihnen erhalten. Maryam berichtet, eine mit ihr gefangene Frau habe nach der Freilassung versucht, sich das Leben zu nehmen.
"Eine der brutalsten Waffen"
Da Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Amnesty International offiziell nicht mehr in den Iran einreisen dürfen, hatten sie im Land einen Aufruf verbreitet, Haftbedingungen nach einer Festnahme zu schildern. "Gemeldet haben sich 84 Betroffene, Ärzte, Therapeuten und Anwälte", erklärt die Pressesprecherin von Amnesty International, Ellen Wesemüller. Die Dunkelziffer sei wahrscheinlich ein Vielfaches höher: Mehr als 20.000 Menschen wurden während der Protestwelle im Iran im vergangenen Jahr festgenommen.
Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, sagt: "Sexualisierte Gewalt ist eine der brutalsten Waffen im Arsenal der iranischen Behörden, um Protestierende zu demütigen und Kritik zu unterdrücken und so um jeden Preis an der Macht zu bleiben."
Täter aus vielen staatlichen Bereichen
Die Täter sind den Erkenntnissen von Amnesty zufolge Angehörige der Revolutionsgarde, der paramilitärischen Basidsch-Miliz, des Geheimdienstministeriums sowie verschiedener Abteilungen der Sicherheitskräfte, darunter die Polizei für öffentliche Sicherheit, die Ermittlungseinheit und weitere Spezialeinheiten.
Zu den Überlebenden gehören Frauen und Mädchen, die ihr Kopftuch abgenommen hatten, sowie Männer und Jungen, die auf die Straßen gingen, um gegen das Regime zu protestieren. Das jüngste Opfer ist 14 Jahre alt.
Kein Täter bislang angeklagt
Sexuellen Missbrauch im Iran zu dokumentieren sei aus mehreren Gründen schwierig, sagt Wesemüller: Wer so brutal durch staatliche Akteure gedemütigt und vergewaltigt worden sei, den belasteten Scham, aber auch die Angst um sich und das eigene Umfeld, weil das Regime oft auch die Familien der Opfer bedrohe. Gerade verletzte Frauen trauten sich nach einer Vergewaltigung oft nicht ins Krankenhaus - aus Sorge, erneut festgenommen zu werden. Wenn möglich, suchten sie sich medizinische Hilfe im Bekannten- oder Freundeskreis.
Die tiefen körperlichen und psychischen Narben für die Überlebenden bleiben oft ein Leben lang. Und dann ist da noch die Gewissheit, dass die Taten weder angeklagt noch strafrechtlich verfolgt werden. Denn für Folter müssten sich die Täter innerhalb der Geheimdienste und Sicherheitskräfte nicht rechtfertigen, erklärt Duchrow: "Kein einziger von ihnen wurde bisher angeklagt."
Gewalttaten oft direkt nach Festnahme
Die Vergewaltigungen fanden den Gedächtnisprotokollen zufolge vorwiegend direkt nach der Festnahme und in improvisierten Hafteinrichtungen und Polizeiwagen statt - an Orten, wo sich auch die Täter dem Auge der Justiz und der Öffentlichkeit entziehen konnten.
Auch der ARD liegen Berichte über massive Gewalt und Bedrohungen durch Sicherheitskräfte vor. So sollen viele Menschen festgenommen und dann mehrere Stunden oder Tage in Bussen oder Schulen und Wohnhäusern, die zu Hafteinrichtungen umfunktioniert worden waren, festgehalten worden sein. Dort soll es zu Vergewaltigungen und Misshandlungen gekommen sein.
Es seien keine Einzelfälle, die der Bericht aufzeigt, sondern ein systematisches Muster, sagt Wesemüller von Amnesty International. Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt durch Sicherheitskräfte haben demnach in dem Land eine lange Geschichte: Bereits zwischen 1983 und 1988 habe es solche Übergriffe bei Demonstrationen gegeben. Auch nach den großen Protesten 2009 gab es immer wieder Meldungen von verhafteten Protestierenden, die von Sicherheitskräften vergewaltigt und gefoltert worden seien.
Mit den lebenslangen Folgen alleingelassen
Für den Konfliktforscher Robert Nagel am Institute for Women, Peace and Security der Georgetown University in Washington scheinen die Vergewaltigungen ein fester Bestandteil des Gewaltrepertoires der iranischen Sicherheitsbehörden zu sein. Das lege nahe, dass es ein Teil der Repressionsstrategie ist. Die Berichte zeichneten ein Bild von - implizit oder sogar explizit - tolerierter Gewalt mit dem Ziel der Unterdrückung und Repression.
Zwar habe er bisher keine Berichte oder Nachweise gesehen, dass Offiziere Vergewaltigung angeordnet haben, aber die in weiten Teilen übereinstimmenden Schilderungen von Amnesty International und Human Rights Watch legen in seinen Augen nahe, dass Vergewaltigungen und sexualisierte Folter durch Soldaten, Polizisten, Agenten oder Mitglieder der Revolutionsgarde nicht verboten sind. Die Taten würden nicht aktiv verhindert und daher implizit vom Regime toleriert werden.
"Maryam", heißt es in dem Bericht, leidet auch heute noch an den Folgen der Massenvergewaltigung. Zunächst habe sie nur ihrer Mutter von dem sexuellen Missbrauch erzählt, da sie zum Zeitpunkt der Vergewaltigung noch Jungfrau war und Angst hatte, ihr Verlobter würde sie verlassen, wenn er davon erfährt. Mehrfach habe sich "Maryam" inzwischen operieren lassen, um ihr Jungfernhäutchen wieder herstellen zu lassen. Wenigstens, so die Frau, sei ihre Ehre damit nicht ganz verloren.