Politische Interessen Wer will was in Afghanistan?
In Teheran beginnt heute eine Konferenz zur Zukunft Afghanistans - ohne die Taliban. Nicht nur der Iran hat im Nachbarland eigene Ziele. Die Strategien der Staaten sind unterschiedlich.
Iran: Gegen die USA, gegen den IS
Der Teheraner Politikwissenschaftler Ali Bigdeli nennt das Verhältnis zwischen dem Iran und Afghanistan "obskur". Einen Tiefpunkt erlebte es 1998: Mutmaßliche Taliban-Kämpfer drangen in das iranische Konsulat in Masar-i-Sharif im Norden Afghanistans ein und töteten mehrere Diplomaten und einen Journalisten. Damals kam es fast zum Krieg.
Großen Einfluss auf die Beziehungen der beiden Länder haben die USA. Gemäß dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Laut Bigdeli gibt es vor allem in den letzten sechs, sieben Jahren eine geheime Zusammenarbeit Teherans mit den Taliban - man habe ihnen finanzielle Unterstützung und Waffen zur Verfügung gestellt.
Teheran verfolgt drei Ziele: erstens die sunnitische Terrormiliz IS zu bekämpfen. Sie verübt immer wieder Anschläge auf die schiitische Minderheit in Afghanistan. Zweitens mehr Einfluss im Nachbarland zu gewinnen - strategisch und auch wirtschaftlich - und drittens die US-Streitkräfte von dort zu vertreiben.
Noch bevor die NATO Afghanistan Mitte August verließ, gab es Besuche der Taliban in Teheran. Manche Kreise sehen die Taliban von heute gemäßigt und nicht mehr sunnitisch-islamistisch geprägt. Andere halten die Kontakte für einen strategischen Fehler.
Karin Senz, ARD-Studio Teheran
Russland: Sorge vor islamistischen Kämpfern
Russland beobachtet die politische Entwicklung in Afghanistan mit Sorge. Präsident Wladimir Putin hat immer wieder die Befürchtung geäußert, dass islamistische Kämpfer als Flüchtlinge getarnt in die zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken und auch nach Russland einsickern könnten. Aus diesem Grund hatte die russische Regierung in der vergangenen Woche selbst zu Gesprächen nach Moskau geladen - mit dem Ziel, gemeinsame Anstrengungen aller Staaten der Region zur Bekämpfung von Terrorismus und Drogenhandel voranzubringen.
Auch die innenpolitische Lage in Afghanistan bereitet Russland Sorge. Vor der Konferenz in Moskau kritisierte Putin die Zusammensetzung der afghanischen Regierung und warf den Taliban vor, die Regierung spiegele nicht die gesamte Vielfalt der afghanischen Gesellschaft wider. Man werde beobachten, was aus den Versprechen der Taliban werde, die normale Arbeit der Regierungsbehörden wieder aufzunehmen und allgemeine Wahlen abzuhalten. Russland hofft, durch solche Gesprächsformate zu mehr Stabilität in Afghanistan beitragen zu können und die Zahl der Flüchtlinge aus dem Land zu reduzieren.
Moskau erkennt die Taliban nicht als legitime Regierung Afghanistans an, sieht aber keine Alternative zu einem Dialog mit den neuen Machthabern. So unterhält Russland weiterhin seine Botschaft in Kabul.
China: Demonstrative Nähe und Vereinnahmung
Chinas Staats- und Parteiführung sucht schon seit Längerem demonstrativ die Nähe zu den Taliban. Bereits einige Wochen vor dem Machtwechsel in Afghanistan rollte sie den roten Teppich für die Islamisten aus, im wahrsten Sinne des Wortes: In der nordchinesischen Stadt Tianjin empfing Außenminister Wang Yi Ende Juli eine große Delegation der Taliban, darunter den damaligen politischen Chef der Gruppe Abdul Ghani Baradar, der inzwischen selbsternannter Vize-Regierungschef Afghanistans ist.
Als die Taliban Mitte August in Kabul einrückten, war die Volksrepublik China eines der ersten Länder, die die neuen afghanischen Machthaber de facto anerkannten. Seitdem schlachtet Chinas Staatsführung die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor allem propagandistisch aus: Die allesamt staatlich kontrollierten Medien in China betonen, dass der Sturz der bisherigen Regierung Afghanistans beweise, dass der Westen mit seiner Außenpolitik gescheitert sei.
Was in China verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass die Staats- und Parteiführung rund 20 Jahre lang davon profitiert hat, dass die USA im Nachbarland Afghanistan für eine gewisse Stabilität sorgten. Diese Stabilität zu bewahren - vor allem an der Grenze zum westchinesischen Landesteil Xinjiang sicher zu halten - ist das oberste Interesse der chinesischen Regierung. Darüber hinaus hat China in Afghanistan auch wirtschaftliche Interessen. Die spielen aber in der Realität eine deutlich kleinere Rolle, als von manchen chinesischen Medien unterstellt wird.
Steffen Wurzel, ARD-Studio Shanghai
Pakistan: Ursprungsland mit engsten Verbindungen
Die Verbindungen zwischen Pakistan und Teilen der Talibanbewegung sind ohne einander gar nicht zu denken: Die Taliban sind in Pakistan entstanden, in den 1990er-Jahren, in Koranschulen. Als die Taliban vor mehr als 20 Jahren an der Macht waren, war Pakistan eines von drei Ländern, das das damalige Emirat anerkannte.
Als die USA zusammen mit der NATO in Afghanistan einmarschierten und die Taliban-Herrschaft zu Fall brachten, gingen viele Anführer nach Pakistan und bauten von dort aus die Bewegung wieder auf. Dass der pakistanische Geheimdienst auch dabei seine Finger mit im Spiel hat, leugnet die pakistanische Regierung zwar. Aber weder die Menschen in Afghanistan noch internationale Geheimdienste zweifeln daran, dass Pakistan engste Kontakte zu einzelnen Taliban pflegt und sie mit Geld und Waffen unterstützt.
Für Pakistan ist die Machtübernahme der Taliban zwar auch eine Gefahr, weil sich in Afghanistan nun noch mehr islamistischer Terror breitmachen könnte, der auch den Nachbarn in Gefahr bringen kann. Im regionalen Machtspiel in Südasien allerdings - und vor allem gegenüber dem Erzfeind Indien - ist für Pakistan die Machtübernahme der Taliban ein großer Vorteil, da sich Islamabad erhofft, nun einen viel größeren Einfluss auf Afghanistan ausüben zu können.
Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi
Indien: Die Entwicklung unterschätzt
Rund drei Milliarden Dollar hat Neu-Delhi in den vergangenen zwanzig Jahren in den Aufbau eines säkularen, demokratischen Afghanistans investiert. Kabul verdankt den Indern ein Parlamentsgebäude, für das die Taliban nun keine Verwendung mehr haben.
Die Machtübernahme der radikalen Islamisten war aber auch ein strategischer Rückschlag für Indien. Denn die Taliban sind Indiens Erzfeind Pakistan wohlgesonnen, der ihre Rückkehr ermöglicht und Indien im regionalen Machtspiel übertrumpft hat. Die Inder fürchten nun ein Erstarken des muslimischen Terrorismus in der Region und im eigenen Land, auch im umstrittenen Kaschmir.
Trotzdem schien Indien lange nicht bewusst zu sein, welche Folge das Ende der westlichen Intervention haben würde: Die Regierung nahm erst spät Kontakt zu den Taliban auf. In Moskau traf eine Delegation im Oktober erstmals formell auf die Islamisten. Im November lädt Indien dann selbst zu einer Konferenz ein - Neu-Delhis erste internationale Afghanistan-Initiative. Eine Anerkennung des Taliban-Emirats steht für Indien aber nicht zur Diskussion.
Sabina Matthay, ARD-Studio Neu-Delhi
Tadschikistan und Usbekistan: Wachsam bleiben, Brücken bauen
Seit die Taliban in Afghanistan an die Macht gekommen sind, ist Tadschikistan in Alarmbereitschaft. 20.000 Reservisten wurden mobilisiert, die russische Militärbasis im Land aufgerüstet. Gemeinsame Manöver in der Grenzregion sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.
Den Zusicherungen der Taliban, dass keinerlei Gefahr von Afghanistan ausgehe, traut man nur bedingt. Schließlich hat die Erfahrung gezeigt, dass sich eine Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan oft auch negativ auf das wirtschaftlich angeschlagene Tadschikistan ausgewirkt hat. Die Sorge, dass islamistische Terrorgruppen das Land infiltrieren und alte Drogenrouten neu belebt werden könnten, ist groß. Der offizielle Grenzverkehr ist deshalb weiter eingeschränkt.
Ganz anders als im Nachbarland Usbekistan: Hier setzt die politische Führung statt auf Abschottung und Abschreckung auf direkte Gespräche und intensiven Handel. Über den Grenzpunkt Termiz im Süden des Landes können Waren seit geraumer Zeit wieder frei hin und her transportiert werden. Afghanistan gilt als wichtiger Handelspartner, auch was den Transit betrifft. Gute Geschäfte, so lautet der pragmatische Ansatz in Taschkent, seien nun mal auch eine gute Basis für ein friedliches Nebeneinander.
Christina Nagel, ARD-Studio Moskau