USA Wo Milliarden Zikaden zirpen
Alle 221 Jahre kriechen zwei Zikaden-Populationen gleichzeitig aus ihren Larven und erfüllen die Luft mit dröhnendem Paarungsgesang. Das große Spektakel in mehreren US-Bundesstaaten bringt manchen auf ungewöhnliche Ideen.
Zwei Schwärme der Zikaden krabbeln in diesem Jahr zeitgleich aus dem Boden der USA. Mehrere Milliarden Tiere der sogenannten XIII- und XIX-Population zirpen gerade ohrenbetäubende Paarungslieder in den Bundesstaaten Illinois und Virginia. Sie kommen nur alle 13 beziehungsweise 17 Jahre für ein paar Tage ans Licht, um sich zu paaren und Eier zu legen.
Im Ryerson Woods Preserve, einem Naturschutzgebiet im Norden von Chicago, sind eineinhalb Millionen der rotäugigen Insekten auf der Fläche eines halben Fußballfeldes aus der Erde gekrochen. Nicht nur für diesen Ort ist das ein außergewöhnliches Ereignis.
Um über das Verhalten der Insekten und ihren Lebenszyklus aufzuklären, hat der Ort zu einem Zikaden-Festival geladen. Kinder stolpern in Zikaden-Kostümen über Picknick-Decken, bunte Erklärbildchen spicken Stellwände und auf Stelltischen stehen Käfer-Käfige mit lebenden Exemplaren.
Der sattgrüne Wald um das Besucherzentrum herum dröhnt förmlich: 110 Dezibel, so laut wie ein Jet im Landeanflug, ist der Paarungsruf der Männchen.
Wenn die Zikaden die Erde verlassen haben, klettern sie an Bäumen hoch und lassen dabei ihre leere Hülle auf den Boden fallen.
Ein spezieller Duft
Ein leicht fauliger Geruch liegt in der Luft. Unter vielen Bäumen vermodern hunderttausende von braunen Chitinpanzern. Das sind die Exoskelette der Larven, aus denen die erwachsenen Zikaden geschlüpft sind.
Als Experte für die Insektenart geht Gene Kritsky von der Mount St. Joseph Universität in Ohio mit weißem Tropenhut und Gehstock von Infostand zu Infostand und informiert Wissbegierige. Fernseh-Teams aus Großbritannien und Japan wollen Interviews.
Das Interesse ist in diesem Jahr besonders groß, denn nur alle 221 Jahre kommen die beiden Populationen gleichzeitig vor - auch wenn es keine geographischen Überlappungen zwischen ihnen gibt. Zuletzt war das 1803, zur Zeit der Napoleonischen Kriege.
Was hat es mit den Populationen auf sich und was unterscheidet die Zikaden? Gene Kritsky klärt Wissbegierige auf - und das Interesse ist groß.
Ein Koch kommt auf eine Idee
Hier in Illinois bevölkern wie alle 17 Jahre Insekten der Population XIII die Baumkronen, wo sie sich paaren. Die Weibchen legen dann Eier, aus denen nach einigen Wochen Larven schlüpfen, die auf den Boden fallen und sich für die nächsten 17 Jahre wieder eingraben.
"Faszinierend", staunt Rafa Esparza. Er ist Koch eines Szene-Restaurants in Chicago, wo er werbewirksam Zikaden auf die Speisekarte gesetzt hat. Zikaden-Pasta, Popcorn und Cocktails mit Zikaden-Deko. "Für die Gäste ein Gimmick, aber sie schmecken auch - nussig. Manchmal bleibt ein Flügel zwischen den Zähnen stecken."
Esparza ist hier, um Nachschub zu besorgen. Er kommt mit dem Professor ins Gespräch. Der weist darauf hin, dass die Nymphen - so heißen die Larven, die frühmorgens aus dem Boden kommen - besser genießbar sind, sie haben noch keinen Chitinpanzer und keine Flügel.
Milliarden Zikaden schlüpfen - und der Koch Rafa Esparza sammelt einige vor Ort ein, weil sie ihn kulinarisch inspirieren.
Zikaden ohne Unterleib
Eine Zikade landet auf Kritskys Schulter. Er hält sie Esparza unter die Nase. Erschrocken stellt der fest: "Sie hat keinen Unterleib!"
Es handelt sich um eine sogenannte Zombie-Zikade. Bis zu dreißig Prozent der Tiere sind mit einem Pilz befallen, der im Bauchraum und im Geschlechtsteil der Insekten wächst. Bei der Paarung reißt das Geschlechtsteil ab, die Insekten leben aber noch kurz weiter.
Die Wirkstoffe der Sporen, Amphetamine und Psilocybin, "gleichen Magic Mushrooms", erklärt Kritsky, und sie versetzen die Tiere in einen hypersexualisierten Zustand. Durch das hyperaktive Verhalten verteilen sich die Pilzsporen, die aus ihrem halbierten Körper fallen und wiederum herumfliegende Tiere infizieren.
"Gut für den Fungus, schlecht für die Zikaden", sagt Kritsky. "Aber es gibt immer noch genug gesunde Tiere, die das Überleben ihrer Art sichern."
Die Paarung der Zikaden kann heftige Folgen haben - wenn sie einen Pilz in sich tragen.
Keine psychedelischen Effekte
Esparza hat der Begriff "Magic Mushroom" aufhorchen lassen. Er will wissen, ob der Konsum Fungus-befallener Insekten gefährlich sei oder psychedelische Effekte für den Menschen hätte. Der Professor beruhigt ihn, es bestehe keine Ansteckungsgefahr. Und high werde auch niemand von Zikaden - "die Dosis ist zu gering".
Der Chefkoch kann also beruhigt sein, dass er mit seinem Spezial-Menu keinen Drogenrausch bei seinen Gästen auslöst. Mit Nymphen in der Tupperdose fährt er zurück in seine Restaurantküche, um ein flügelfreies Gericht auszuprobieren.
Den Gästen muss es schmecken - dieser Kunde im Restaurant von Rafa Esparza scheint mit dem Zikaden-Gericht durchaus zufrieden zu sein.