Gewalttaten an US-Schulen Üben für den Ernstfall
Immer wieder gibt es an US-Schulen Amokläufe. Fast alle Schulen in den USA führen Übungen durch, um Schülerinnen und Schüler auf Gewalttaten vorzubereiten. Doch wie sinnvoll sind diese "drills"?
Wenn die 17-jährige Lucinda Dougherty über die Lockdown-Übungen an ihrer Schule spricht, ist zweierlei spürbar: Routine, eine Stück Normalität - schließlich gehören die Übungen zum Schulalltag - und Sorge, ein Stück Verunsicherung - an den Gedanken, dass es auch an ihrer Schule einen Schusswaffenangriff geben könnte, kann und will sie sich nicht gewöhnen.
"Ich erinnere mich, dass ich diese Übungen schon gemacht habe, als ich noch klein war, sechs, sieben Jahre alt", erzählt sie. "Tür zum Klassenzimmer abschließen, die Fenster möglichst abdunkeln, und in den Zimmerecken kauern, unter den Tischen sitzen oder uns an die Wand unterhalb der Fenster ducken, damit uns von außen niemand sehen kann."
Übungen mit simulierten Schüssen und Poltern an der Tür
"Normalerweise kündigen sie über die Lautsprecher an, dass jetzt eine Lockdown-Übung kommt", sagt Lucindas Bruder, der 14-jährige Caio, der ebenfalls im Bezirk Montgomery County im Bundesstaat Maryland in die Schule geht.
Doch von Schulbezirk zu Schulbezirk, manchmal von Schule zu Schule in den USA werden diese Übungen ganz unterschiedlich durchgeführt, mit oder ohne Vorwarnung, von drastisch-realistisch mit Poltern an der Tür, über Lautsprecher eingespielten, simulierten Schüssen, bis hin zu sensibel-einfühlsam mit Vor- und Nachbereitung im Unterricht, begleitenden Diskussionen.
Gab es an ihrer Schule schon wirkliche Gefahrenlagen? "Einmal wurde jemand mit einem Messer schwer verletzt, es war draußen, aber noch auf dem Schulgelände", erzählt Lucinda. "Wir hatten eine Bedrohungslage dieses Jahr, als jemand eine Person mit einer Waffe im Park direkt neben der Schule gesehen hat", sagt Caio. "Es war frühmorgens. Als ich zur Schule kam, galt schon der Alarmzustand. Ich habe mich mit ein paar anderen Schülern hinter einem Auto versteckt, bis der Lockdown wieder aufgehoben war."
In einer Studie, die vor kurzem im "New England Journal of Medicine" veröffentlicht wurde, haben Wissenschaftler die völlig uneinheitliche Übungspraxis an US-Schulen kritisiert. Es fehlten sowohl fundierte Anleitungen für die Durchführung als auch Daten über die Wirkung und damit die Sinnhaftigkeit dieser "Lockdown drills".
Zwischen wichtig und hin- und hergerissen
"Ich denke, sie sind schon wichtig", meint Lucinda, "weil die meisten Schüler überhaupt nicht wissen, wie sie sich bei Gefahr verhalten sollen. Es hilft, wenigstens etwas vorbereitet zu sein, für den Fall der Fälle."
Ihr Vater Carter Dougherty sagt, er sei beim Thema Lockdown-Übungen hin- und hergerissen: "Dein erstes Gefühl aus Elternsicht ist natürlich, Du willst dass die Schule alles tut, um die Sicherheit Deiner Kinder zu gewährleisten. Aber gleichzeitig bin ich jedes Mal wütend, dass diese Übungen nötig sind, weil die Möglichkeit besteht, dass jemand die Schule Deiner Kinder mit einer halbautomatischen Waffe betritt und Dutzende Schüler tötet."
Wütend sind auch diese Demonstranten vor dem Kapitol in Washington. Eine Woche lang haben sie für schärfere Waffengesetze demonstriert. "Mein Cousin ist bei der Schießerei von Parkland in Florida vor fünf Jahren getötet worden", sagt Sam Schwartz, inzwischen 19, einer der Sprecher der Gruppe. "Keiner der Politiker, die hier auf dem Weg ins Kapitol an uns vorbeikommen, hat bisher mit uns gesprochen."
Nach der Statistik der Website Gun Violence Archive hat es allein in diesem Jahr in den USA bereits 320 Schusswaffenangriffe mit mindestens vier Toten oder schwer Verletzten gegeben, in Einkaufszentren, auf der Straße - seltener, aber eben immer wieder auch: in Schulen.
Praktisch jeder könne fast überall im Land kriegstaugliche Waffen kaufen, selbst Kriminelle oder Menschen mit psychischen Problemen, beklagt Sam Schwartz: "Du gehst einfach ins Geschäft, keine Überprüfung Deines Hintergrunds, ab 18, in manchen Staaten ab 21, hast Du im Handumdrehen eine halbautomatische Waffe gekauft, mancherorts nach buchstäblich zehn Minuten."
"Die Waffenkultur ist bei vielen hier Teil der DNA"
"Es ist ein kulturelles Problem", sagt Patricia Oliver. Sie hat ihren eigenen Sohn Hakeem bei dem Schusswaffenangriff in der Schule von Parkland 2018 verloren und ist ebenfalls zur Demonstration nach Washington gekommen. "Denken Sie an die frühe Werbung mit dem Marlboro-Mann oder all die Filme mit dem Macho-Bild vom Cowboy mit der Waffe auf dem Pferd. Die Waffenkultur ist bei vielen hier Teil der DNA."
Auf die Lockdown-Übungen an amerikanischen Schulen angesprochen sagt sie: "Ich denke, die Übungen traumatisieren die Kinder. Auch beim Shooting in Parkland war ein Teil des Problems, dass viele glaubten, es sei eine Übung, nicht die Wirklichkeit. Ich habe mit vielen Eltern und Kindern über diese Lockdown-Übungen gesprochen. Sie richten mehr Schaden an als dass sie Gutes tun, hundert Prozent."
Sam Schwartz meint dagegen: "Wir brauchen diese Übungen an Schulen jetzt noch, weil Angriffswaffen noch nicht verboten sind. Natürlich wäre es besser, wir würden das Problem an der Wurzel packen. Aber das dauert, noch passiert bei den Waffengesetzen viel zu wenig, es ist beschämend."