Verschwundene Studenten in Mexiko Die unerträgliche Ungewissheit geht weiter
Heute vor acht Jahren sind 43 Lehramtsstudenten in Mexiko verschwunden und mutmaßlich ermordet worden. Der Fall sorgte weltweit für Entsetzen. Nach wie vor sind die Hintergründe nicht geklärt.
Die Gemüter sind erhitzt kurz vor dem achten Jahrestag des Verschwindens der 43 Studenten. Vermummte warfen Steine und Sprengsätze vor der Staatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt. Zuvor hatten dort Studenten der ländlichen Fachhochschule Ayotzinapa und Eltern der Verschwundenen friedlich für eine Aufklärung demonstriert. Auch nach acht Jahren wissen sie nicht, was mit ihren Kindern passiert ist.
Ein Transparent zeigt die Porträts der 43 in Mexiko verschleppten Lehramtsstudenten.
Dabei gab es in den letzten Monaten durchaus Fortschritte: Die Wahrheitskommission, die Präsident Andrés Manuel López Obrador zu Beginn seiner Regierung eingerichtet hatte, stellte ihren Bericht vor. Für Sergio Aguayo, Experte für Internationale Beziehungen und Menschenrechte am Colegio de México, sind die Ergebnisse ein großer Schritt:
Die Klarheit und Krassheit, mit der Innenstaatssekretär Alejandro Encinas die Geschehnisse von 2014 dargestellt hat, sind absolut bemerkenswert. Neu ist, dass es sich um ein staatliches Verbrechen handelt. Das ist eine sehr starke Aussage im mexikanischen Kontext. Er zeigte sogar mit dem Finger auf die Armee, auf einen Oberst, der zu dieser Zeit dort ein Bataillon befehligte. Dies ist bemerkenswert, denn die Armee war bisher immer außen vor gelassen worden.
Damit wird die "historische Wahrheit", die von der damaligen Regierung unter Ex-Präsident Enrique Peña Nieto ausgerufen wurde, widerlegt. Sie besagte, dass die Studenten von lokalen korrupten Polizisten festgenommen, Mitgliedern der kriminellen Bande "Guerreros Unidos" übergeben und auf einer Müllhalde verbrannt worden waren.
"Sie legen uns Steine in den Weg"
Gegen mehr als 80 mutmaßliche Täter wurden inzwischen Haftbefehle erlassen, darunter ranghohe Mitglieder des Militärs. Auch gegen den damals verantwortlichen Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam, der jene "historische Wahrheit" verantwortet, wurde Anklage erhoben - wegen Verschwindenlassens von Menschen und Folter.
Doch viele Haftbefehle sind gar nicht vollstreckt worden, 120 weitere Angeklagte sind in den letzten Wochen auf richterlichen Beschluss gar freigelassen worden. Und schon in wenigen Tagen könnte auch Ex-Generalstaatsanwalt Karam wieder freikommen. Für den Anwalt der Familienangehörigen der 43 Studenten, Vidulfo Rosales, sind all das politische Manöver, wie er erklärt:
Jetzt ist klar, dass die Verhaftung von Murillo Karam politisch motiviert war, um Zeit zu gewinnen. Warum vollstreckt die Staatsanwaltschaft die Haftbefehle nicht? Sie legen uns Steine in den Weg, damit wir nicht ans Ziel kommen.
Zuletzt kursierte plötzlich eine ungeschwärzte Version des im August der Bundesstaatsanwaltschaft übergebenen Berichtes der Wahrheitskommission. Sowohl Encinas, der auch Vorsitzender der Wahrheitskommission ist, als auch die Angehörigen der 43 Studenten haben das Hindurchstechen des Berichtes verurteilt, da es die weitere strafrechtliche Aufarbeitung und Verfolgung erschwere. Auch die Arbeit von Ermittlern und Staatsanwaltschaft selbst steht wieder zunehmend in der Kritik.
Das Leid der Angehörigen hat kein Ende
Für die Angehörigen ist das alles schwer zu ertragen, gerade so kurz vor dem Jahrestag des Verschwindens der 43. Genau acht Jahre ist es her, dass Clemente Rodriguez Moreno seinen Sohn Christian Alfonso zum letzten Mal gesehen hat. Dass ein Fragment des Fußes seines Sohnes gefunden wurde, ist für ihn weder ein Beweis für Christians Tod noch für seinen Verbleib: "Wo sind die kompletten Überreste? Wir wissen es nicht", stellt er fest. "Mit anderen Worten: Die Forderung wird gleich bleiben, trotz der Aussagen der Regierung. Sie haben sie lebend mitgenommen, lebend wollen wir sie wieder haben."
Der Bericht der Wahrheitskommission hatte Hoffnungen geschürt, dass endlich geklärt wird, was in der Nacht des 26. September 2014 tatsächlich vorgefallen ist, dass die unerträgliche Ungewissheit für die Eltern der Studenten bald ein Ende haben könnte, dass die tatsächlich Verantwortlichen für das Verbrechen zur Rechenschaft gezogen würden. Nun zeigt sich wieder einmal: Der Kampf und das Leid von Clemente Rodriguez Moreno und der anderen Angehörigen werden weitergehen.
Mit Informationen von Anne Demmer, ARD-Studio Mexiko-Stadt.