Neue Proteste Kubas Führung in der Zwickmühle
Der Protest auf Kuba speist sich aus vielfacher Unzufriedenheit, sagt Lateinamerika-Experte Hoffmann. Es mangelt an Lebensmitteln, Medikamenten und wirtschaftlicher Perspektive. Das erschwert es der Führung, schnelle Lösungen anzubieten.
tagesschau.de: Tausende Kubaner sind am Wochenende auf die Straße gegangen, um gegen die Lebensverhältnisse auf der Insel zu demonstrieren. Am Montag gab es offenbar erneut - wenn auch kleinere - Demonstrationen. Woran entzündet sich der Protest?
Bert Hoffmann: Er entzündet sich an einer schweren Wirtschaftskrise. Die Versorgungslage ist prekär geworden, alles ist knapp. Die Menschen müssen nicht nur viel Schlange stehen, sondern haben auch die Sorge, wo sie etwas finden können, was sie am Abend auf den Essenstisch stellen. Dazu kommen Stromausfälle oder Medikamentenmangel. Aber bestimmend ist der Mangel an Nahrungsmitteln - und dass eine Perspektive fehlt, wann und wie sich die Situation verbessern kann. Dazu kommen die Pandemie mit steigenden Infektionszahlen und der Vertrauensverlust in die politische Führung.
Professor Bert Hoffmann ist Lead Research Fellow beim Forschungsinstitut GIGA und Professor an der FU Berlin.
tagesschau.de: Mangelwirtschaft ist nichts Neues auf Kuba. Was hat sich verändert, dass die Menschen jetzt auf die Straße gehen?
Hoffmann: Die wirtschaftliche Lage war noch vor zwei Jahren viel entspannter. Dann aber hat die Pandemie den Tourismus und damit den wichtigsten Wirtschaftszweig auf der Insel fast auf Null gebracht. Die Familien trifft zum zweiten, dass der vorherige US-Präsident Donald Trump Überweisungen der Verwandten in den USA nach Kuba praktisch verboten hat. Mehr als 400 Büros von Western Union auf Kuba mussten schließen. Damit sind die zwei wichtigsten Devisenbringer massiv eingebrochen. Das schafft eine ganz andere Situation als die üblichen Probleme der sozialistischen Wirtschaft Kubas.
Hoffnung durch eigenen Impfstoff
tagesschau.de: Kuba war immer stolz auf sein Gesundheitssystem, hat ja sogar viele Ärzte ins Ausland geschickt. Wie stark hat das Land Corona getroffen?
Hoffmann: Die Gesundheitsversorgung ist immer noch flächendeckend, aber es mangelt an vielem - vor allem an Dingen, die importiert werden müssen. Kuba hat eine große Medikamentenproduktion, die aber auf Vorprodukte angewiesen ist, die eingeführt werden müssen. Aber was wirklich sensationell ist: Kuba hat zwei Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt, die beide eine hohe Effektivität haben - kein anderes lateinamerikanisches Land hat das geschafft. Diese Impfstoffe werden nun breit verabreicht, so dass der Großteil der Bevölkerung bis Ende des Jahres geimpft sein dürfte. Damit verbindet sich die Hoffnung auf mehr wirtschaftliche Normalität und eine Rückkehr des Tourismus. Aber bis dahin stehen der Bevölkerung noch harte Monate bevor.
tagesschau.de: Was zeichnet die Demonstranten aus?
Hoffmann: Das Besondere ist zunächst, dass es überhaupt Proteste gibt - das kennt Kuba so gut wie nicht, Demonstrationen gegen die Regierung sind ja nicht erlaubt. Die letzten breiten Proteste gab es 1994. Die Demonstranten stellen einen Querschnitt durch die Bevölkerung dar, sicherlich aber mehr jüngere Menschen als alte. Der Großteil der Bevölkerung verhält sich im übrigen passiv, will vielleicht nichts riskieren oder ist unentschlossen. Anders als früher verbreiten sich die Bilder von Protesten über die sozialen Medien sofort im ganzen Land. Ein kleiner Protest in einem kleinen Ort wird umgehend landesweit gesehen und findet Nachahmer. Vor allem junge Kubaner nutzen Facebook und WhatsApp, die Kosten werden häufig von Verwandten im Ausland übernommen.
Führung mit wenig Charisma
tagesschau.de: Kürzlich ist die Ära der Familie Castro auch offiziell zu Ende gegangen, Raul Castro gab sein Amt als Vorsitzender der Kommunistischen Partei an Staatspräsident Miguel Diaz-Canel. Spielt das auch eine Rolle?
Hoffmann: Die Führung des Landes hat es geschafft, den Übergang von Fidel zu Raúl Castro und von Raúl zu Díaz-Canel höchst geräuschlos und ohne sichtbare Brüche zu organisieren. Die Elite blieb geschlossen, und das sorgte für Stabilität. Der Preis war, dass alle schwierigen Reformen aufgeschoben wurden - und dass man der neuen Führung keinen Raum gibt, ein eigenes Profil zu entwickeln und sich eigenen Rückhalt zu erarbeiten. Es wurden loyale, uncharismatische Kader gewählt, die niemandem in der Führung gefährlich werden können. Sie werden aber auch von der Bevölkerung als schwach wahrgenommen. Die historische Generation ist zu Lebzeiten abgetreten, aber hat den Nachfolgern einen Rahmen hinterlassen, in dem sie kaum erfolgreich sein können.
tagesschau.de: Erklärt das auch den scharfen Ton, den Diaz-Canel angeschlagen hat? Er hat gesagt, wer die "Revolution" besiegen wolle, müsse über Leichen gehen - das klingt nach einer Drohung und nicht nach Dialogbereitschaft.
Hoffmann: Es gibt diese martialische Rhetorik, aber der Diskurs ist ambivalent. Er hat auch gesagt, dass nicht alle Demonstranten Feinde seien, dass er die Sorgen der Bevölkerung verstehe, dass sich die Partei um die Probleme kümmern werde. Er ist an den Ort gefahren, wo die Proteste begonnen hatten und hat dort mit Leuten gesprochen. Er bunkert sich nicht ein; auf der einen Seite droht er, auf der anderen zeigt er Verständnis. Ob das Erfolg hat, ist eine andere Frage.
Skepsis gegenüber Versprechungen
tagesschau.de: Was kann er den Unzufriedenen im Land anbieten?
Hoffmann: Wenig - das ist genau das Problem. Er kann die Hoffnung bieten, dass es besser wird, wenn alle geimpft sind. Das ist für viele weit weg. Wenn man in einer prekären Situation ist, sind fünf, sechs Monate sehr lang - und auch dann wird ja der Tourismus erst langsam wieder anlaufen. Er verspricht, den Reformprozess fortzuführen, dass die Landwirtschaft mehr Nahrungsmittel produziert. Aber das heißt es seit vielen Jahren, und verbessert hat sich wenig. So ist die Skepsis groß - in der Bevölkerung, die viele Versprechen gehört hat, aber auch innerhalb der Partei, weil manche mit Liberalisierung auch Kontrollverlust fürchten. Und Marktreformen führen ja in der Tat auch zu mehr Ungleichheit. Wenn man zum Beispiel das System der Lebensmittelkarten aufgäbe, das wirtschaftlich ineffizient ist - ohne diese Zuteilungen würde die Lage für das untere Drittel der Bevölkerung noch viel schwieriger, als sie ohnehin schon ist. Das ist eine echte Zwickmühle, und nicht nur Zynismus und Halsstarrigkeit. Auch die Reformkräfte wissen, dass es keine einfache Lösung gibt. Schließlich kann die Führung sich auch als alternativlos präsentieren á la: "Wenn die USA und das Exil das Land übernehmen, wird alles schlimmer."
tagesschau.de: Die USA hatten unter Ex-Präsident Trump die Sanktionen gegen Kuba wieder verschärft, Joe Biden wiederum steht für den liberaleren Kurs der Ära Obama. Können die Kubaner hier auf einen Kurswechsel hoffen?
Hoffmann: Bislang gibt es noch keine relevanten Änderungen. Biden hat deutlich gemacht, dass er in der Kuba-Politik nicht "Obama 2" werden wird. Im Raum steht aber, die Geldüberweisungen wieder zu erlauben. Das betrifft ja nicht nur Kuba, sondern auch US-Bürger, denen verboten wird, selbst zu entscheiden, ob sie Gelder an ihre Verwandten schicken wollen. Gerade in diesen Zeiten wäre das auch eine humanitäre Geste. Es würde vielen Kubanern helfen, aber auch der Wirtschaft insgesamt, weil damit wieder Geld ins Land kommt. Und in dieser Frage sind die Kubano-Amerikaner ja selbst gespalten: So sehr sie politische Gegner der Regierung sein mögen, so schwer wiegen doch die Familienbande zu den Verwandten auf der Insel, die man in der Not unterstützen will.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de