Karibikstaat In Haiti eskaliert die Bandengewalt
In Haiti terrorisieren bewaffnete Banden die Bevölkerung. Binnen zehn Tagen mussten mehr als 40.000 Menschen aus ihren Häusern fliehen. Zudem werden immer mehr Kinder in die Bandenkriminalität hineingezogen.
Wegen der eskalierten Bandengewalt im Karibikstaat Haiti sind nach Angaben der Vereinten Nationen binnen zehn Tagen Zehntausende aus ihren Häusern in der Hauptstadt Port-au-Prince geflohen. Zwischen dem 11. und 20. November seien mehr als 40.000 Menschen in Port-au-Prince auf der Flucht gewesen, einige bereits zum zweiten oder dritten Mal, erklärte die Internationale Organisation für Migration (IOM).
Demnach handelt es sich um die schlimmste Vertreibungswelle seit zwei Jahren. "Das Ausmaß dieser Vertreibung ist beispiellos, seit wir im Jahr 2022 begonnen haben, auf die humanitäre Krise zu reagieren", erklärte der IOM-Chef in Haiti, Gregoire Goodstein. Insgesamt wurden nach IOM-Angaben mehr als 700.000 Menschen in Haiti vertrieben. "Diese Krise ist nicht nur eine humanitäre Herausforderung. Sie ist ein Test für unsere kollektive Verantwortung", erklärte Goodstein weiter.
Der Inselstaat mit zehn Millionen Einwohnern steckt seit Jahren in einer schweren Krise, zu der neben Bandengewalt auch politische Instabilität und wirtschaftliche Not beitragen. Infolge der Bandengewalt sind nach UN-Angaben Hunderttausende Menschen innerhalb des Landes geflohen.
Bis zu 50 Prozent der Bandenmitglieder sind Kinder
Inzwischen werden auch immer mehr Kinder in die Bandenkriminalität hineingezogen. Laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF ist im vergangenen Jahr die Zahl der Minderjährigen, die von den Gangs rekrutiert wurden, um 70 Prozent gestiegen. Zwischen 30 und 50 Prozent aller Mitglieder von Verbrecherbanden in Haiti sind demnach mittlerweile Kinder. "Das ist ein sehr besorgniserregender Trend", sagte die UNICEF-Beauftragte für Haiti, Geeta Narayan.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch teilte mit, dass Frauen und Mädchen in Haiti oft fürchterlichen sexuellen Missbrauch durch Mitglieder der Gangs erleiden müssten. Verbrecherbanden kontrollieren rund 85 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince.
Zuletzt wurden auch immer wieder jene wenigen Viertel angegriffen, die von der Gewalt bisher noch ein Stück weit verschont geblieben waren. Jungen würden von den Banden oft als Späher eingesetzt, weil sie nicht als Gefahr wahrgenommen würden, sagte Narayan der Nachrichtenagentur AP. Sie würden aber auch gezwungen zu kämpfen. "Sie tun das nicht freiwillig", sagte Narayan. "Selbst wenn sie bewaffnet sind, ist das Kind hier das Opfer."
Die jüngsten Kinder sind erst acht Jahre alt
In einem Land, in dem mehr als 60 Prozent der Bevölkerung von weniger als vier Euro pro Tag leben und Hunderttausende Hunger leiden, ist es oft leicht, Kinder für Verbrechen zu rekrutieren. Ein Minderjähriger, der einer Bande angehörte, gab an, jeden Samstag um die 30 Euro zu erhalten, wie es in einem Bericht des UN-Sicherheitsrats hieß. Ein anderer sagte, er habe in seinem ersten Monat in einer Bande Tausende Dollar erhalten.
"Kinder und Familien werden in einigen Fällen aufgrund der extremen Armut immer verzweifelter", sagte Narayan. Wenn Kinder sich weigerten, einer Bande beizutreten, bedrohten die Bandenmitglieder sie oder ihre Familien oder entführten sie kurzerhand.
Die Banden hätten es auch auf Kinder abgesehen, die von ihren Familien getrennt wurden, nachdem sie aus der benachbarten Dominikanischen Republik abgeschoben worden sind. "Diese Kinder sind zunehmend das Ziel", sagte Narayan. Die Kinder müssten sich dann erst einmal beweisen und würden befördert, wenn sie jemanden getötet hätten. Die jüngsten dieser rekrutierten Kinder seien gerade einmal acht Jahre alt. Und je länger sie den Banden angehören, desto schwieriger ist es Experten zufolge, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren.