Reportage aus Syrien Die Ignoranz des Westens - der Triumph der Islamisten
Mit jedem Kriegstag gewinnen sie mehr Kampfkraft und mehr Anerkennung: die Nusra-Kämpfer in der syrischen Stadt Aleppo. Der Westen stuft sie als Terrororganisation ein. Die Menschen in Aleppo dagegen setzen auf die Islamisten, weil sie sich vom Westen im Stich gelassen fühlen.
Mit jedem Kriegstag gewinnen sie mehr Kampfkraft und mehr Anerkennung: die Nusra-Kämpfer in der syrischen Stadt Aleppo. Der Westen stuft sie als Terrororganisation ein - die notleidenden Menschen sehen das anders. Sie fühlen sich vom Westen im Stich gelassen und schöpfen durch die Al Nusra neue Hoffnung im Kampf gegen Präsident Assad. ARD-Hörfunkreporter Martin Durm war gemeinsam mit seinem Fernsehkollegen Jörg Armbruster in Aleppo unterwegs, wo Armbruster lebensgefährlich verletzt wurde.
Von Martin Durm, SWR
Vor einigen Monaten waren sie noch ein Phantom: berüchtigt und unsichtbar. Kaum ein westlicher Journalist hatte sie je zu Gesicht bekommen. Jetzt sieht man die islamistischen Kämpfer überall in der Stadt, vor allem in der Sha´aer-Straße, wo die Nusra-Front ihr Hauptquartier hat: Es ist eine Ruine - fünf leere, ausgebombte Stockwerke hoch. Fast täglich wird es aus dem Assad-treuen Westteil Aleppos beschossen.
Oben auf dem Dach flattert die schwarze Al-Kaida-Fahne, unten in den Kellerräumen haust die Elite der Dschihadisten. Aber die sehen wir nicht. Wir sehen nur das einfache Fußvolk der Nusra: Es sind schwarz gekleidete Kämpfer hinter aufgetürmten Sandsäcken. Sie haben bärtige Gesichter und sie tragen Stirnbänder und Kalschnikows. Das Hauptquartier wird fast täglich beschossen. Die nahe Front verläuft unterhalb der Zitadelle; früher Weltkulturerbe, heute Geschützstellung für Assads Artellerie.
Vom Westen enttäuscht
Westliche Regierungen haben die Nusra als Terrororganisation eingestuft. Doch in den Straßen Aleppos wird der Westen verflucht. "Ihr lasst uns allein unter den Bomben", ruft eine verschleierte Frau. "Nur die Nusra schützt uns." Und sie fügt hinzu: "Was ist dabei, wenn sie für uns sind, und für den Islam, für Allah und Mohammed? Assad ist ein Ungläubiger. Nusra ist gut, das sind gute Leute, wir lieben sie."
Auf 8000 Kämpfer angewachsen
Ende Januar 2012 gründeten syrische Dschihadisten die Nusra-Front als einen Ableger von Al Kaida im Irak. Anfangs gingen westliche Geheimdienste noch davon aus, dass allenfalls ein paar hundert Radikalislamisten auf Seiten der Aufständischen mitkämpfen würden. Inzwischen ist die Front auf geschätzte 8000 Kämpfer angewachsen, auch ausländische Dschihadisten gehören dazu. "Die besten Kämpfer kommen von der Nusra", sagt ein junger Mann. "Niemand hilft uns. Amerika, Frankreich, Großbritannien - alle lassen uns im Stich. Ihr sagt: Nusra, das sind Terroristen, Fanatiker. Aber das ist uns egal. Wir sagen: Sie verteidigen uns gegen den Schlächter Assad."
Das eigentliche Kriegsziel der Nusra-Front reicht über Syrien hinaus. Die Al Kaida nahestehenden Dschihadisten kämpfen für ein sunnitisches Emirat, das vom Irak bis hin zum Libanon reichen soll. Ahrar al Sham, die zweite große Islamistenmiliz im syrischen Bürgerkrieg, fände sich schon mit einem nationalen Gottesstaat ab. Noch sind es islamistische Utopien. Doch immer mehr degeneriert die Revolte gegen Assad zu einem Religionskrieg zwischen sunnitischen Rebellen und einem Regime, das die alawitisch-schiitische Minderheit repräsentiert.
Geld an Krankenhäuser und Obdachlose
Auf Propaganda können die Islamisten getrost verzichten. Es genügt, dass sich der Westen so verhält, wie er es seit zwei Jahren tut: Passiv, ratlos und gnadenlos ignorant, weil er den Menschen in den umkämpften Städten jede humanitäre Hilfe verweigert. Stattdessen helfen die Islamisten, die Geld aus Saudi-Arabien bekommen und es an Krankenhäuser und Obdachlose verteilen.
Das Versagen des Westens ist der Triumph der Islamisten geworden. Mit jedem Kriegstag gewinnen sie mehr Kampfkraft, mehr Autorität und mehr Anerkennung. Selbst dort, wo man es gar nicht vermutet: "Die Nusra-Kämpfer sind für uns keine Terroristen, sondern tapfere Kämpfer", sagt Abdul Jabar Akaidi, Kommandant der Freien Syrischen Armee (FSA) in Aleppo.
Hohe militärische Schlagkraft
300 lokale Brigaden haben sich der FSA unterstellt. Keine von ihnen verfügt über eine derart hohe militärische Schlagkraft wie Nusra und Ahrar al Sham, die außerhalb der FSA operieren. "Warum sollten wir auf ihre Schützenhilfe verzichten?", fragt der Kommandant.
Wenn irgendwann einmal alles vorbei ist, Hunderttausend gestorben und Assad gestürzt, was geschieht dann? Das haben wir an einem Abend in Syrien einen Islamisten gefragt. Er war Gast in dem Haus, in dem wir wohnten, ein höflicher junger Mann, der andauernd lächelte und Tee mit uns trank: "Was dann geschieht? Dann werden wir den Alawiten die Köpfe abschneiden, weil sie Ungläubige sind. Und dann machen wir unseren islamischen Staat."