Chagos-Archipel Die letzte britische Kolonie in Afrika
Die Briten dürften bald ihre letzte Kolonie in Afrika los sein: Der Chagos-Archipel inmitten des Indischen Ozeans soll an Mauritius übergehen. Für die deportierten Einwohner geht es um das Recht auf Rückkehr.
Es war der Abend des 27. April 1973, als das letzte Schiff Peros Banhos verließ - die letzte Insel des Chagos-Archipels, auf der bis dahin noch Einheimische lebten, die nun deportiert wurden.
Die Dramen des Abschieds beim Sonnenuntergang über ihrem "Paradies", das Leiden auf rostigen Transportschiffen nach Mauritius, ihr trauriges Leben in den dortigen Slums und das Zerreißen von Familien, fernab von ihren Inseln im Meer: All das findet sich heute in den Farben ihrer inoffiziellen Flagge wieder. Eine Flagge für ein entvölkertes Land, das bislang nur in den Träumen ihrer deportierten Bevölkerung existiert.
"Dann fiel alles auseinander"
Liseby Elysé war damals 20 Jahre alt, frisch verheiratet und mit ihrem ersten Kind schwanger: "Wir durften nichts packen, nur eine Matratze mitnehmen. Männer und Frauen kamen in den Laderaum des Schiffes, einige wurden sehr krank. Das Schiff brauchte vier Tage nach Mauritius."
Am Ende der Reise hatte sie eine Fehlgeburt. Geblieben sind die Erinnerungen: "Als Kinder kletterten wir auf Kokospalmen und sprangen ins Meer. Wenn jemand vom Fischen kam, teilte er mit den anderen. Wir Chagossier waren ein Volk. Dann fiel alles auseinander. Drei meiner Kinder sind jetzt in Großbritannien, eine Tochter ist hier. Es ist nicht einfach."
Liseby Elysé war 20 Jahre alt, als sie zwangsdeportiert wurde und den Chagos-Archipel verlassen musste. Sie möchte dorthin zurückkehren.
Suche nach Militärbasis im Kalten Krieg
Angefangen hatte alles zu Beginn der 1960er-Jahre, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Die USA suchten nach einer Militärbasis im Indischen Ozean. Das Vereinigte Königreich als enger Verbündeter bot sich an: Es gab die Kolonie Mauritius, von der aus das Chagos-Archipel verwaltet wurde - eine der größeren Inseln, Diego Garcia, kam dort als Basis in Frage.
Im Zeitalter der Dekolonisierung wollte aber auch Mauritius die Fremdherrschaft abschütteln. Das britische Angebot: Wir entlassen euch in die Unabhängigkeit, dafür nehmen wir euch Chagos ab und machen es zum britischen Territorium.
So schuf das Vereinigte Königreich 1965 seine letzte Kolonie in Afrika. Bei nicht mal 2000 Einwohnern des Archipels schien in jenen Tagen das Risiko für London, international gebrandmarkt zu werden, gering.
Umsiedelung aus "Sicherheitsgründen"
Die USA wünschten sich - aus "Sicherheitsgründen" - ein menschenleeres Diego Garcia. So wurde zunächst allen Chagossiern im Ausland die Rückkehr verboten, dann wurden die Bewohner von Diego Garcia auf die Nachbarinseln "umgesiedelt".
Liseby Elysé, die damals noch auf Diego Garcia lebte, erinnert sich: "Wir liebten alle unsere Hunde. Bevor sie uns wegbrachten, trieben sie unsere Hunde zusammen und vergasten sie in einem Gebäude. Das brach uns das Herz." Heute kann man auf dem Archipel die weißen, beflaggten Einzelgräber der toten britischen Polizeihunde sehen. Die Gräber der chagossischen Bevölkerung sind dagegen total verfallen.
Als in den späten 1960er-Jahren die Diskussionen auf der Weltbühne um Dekolonisierung und die Rechte indigener Völker weitergingen, entschied sich das Vereinigte Königreich, das "Problem" grundsätzlich zu lösen. Nun sollte auch die Handvoll verbliebener, bewohnter Inseln entvölkert werden. Die Inselbewohner wurden zu "Vertragsarbeitern" der Kokos-Plantagen erklärt, die man ohne Verstoß gegen internationales Recht einfach entfernen konnte, so die Idee.
Der Völkerrechtler Philippe Sands hat vor UN-Gerichten die Übergabe von Chagos an Mauritius durchgefochten. Nun wird über Details verhandelt.
"Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
Für den britischen Völkerrechtler Philippe Sands ein Unding: "Selbst Kleinkinder waren plötzlich Vertragsarbeiter. Der Internationale Strafgerichtshof hat erklärt, das sei total illegal. Deportation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Basta."
Sands hat für Mauritius vor UN-Gerichten die Übergabe von Chagos an Mauritius im Grundsatz längst durchgefochten. Nun wird über Details verhandelt, wie Kompensation für die Vertriebenen und das weitere Verpachten der Militärbasis. Der Vertrag läuft 2036 aus, aber Mauritius hat dem Vernehmen nach weitere 99 Jahre angeboten, um den britischen Widerstand zu brechen und die Vereinbarung zum Abschluss zu bringen.
Klar ist: Mitten im strategisch wichtigen Indischen Ozean, an den bedeutenden Schifffahrtsrouten und im Angesicht einer immer stärkeren Marinepräsenz Chinas dort, ist Diego Garcia mehr denn je ein Juwel für das US-Militär.
Demonstranten fordern die Rückgabe des Chagos Archipels vor dem Londoner Big Ben (Archiv).
Kampf um Unabhängigkeit und Recht auf Rückkehr
"Die Chagossier werden ein Rückkehrrecht bekommen", sagt Sands. "Aber sie kehren als Teil von Mauritius zurück, nicht in ein unabhängiges Land. Das sieht internationales Recht einfach nicht vor." Vor allem die starke chagossische Gemeinde im Vereinigten Königreich kämpft weiter für die totale Unabhängigkeit, auch von Mauritius. Doch dem Inselstaat werden die Hoheitsrechte nicht mehr zu nehmen sein.
Viele der Älteren, der ersten Generation der Vertriebenen, sind an dieser Frage auch weniger interessiert: Sie wollen vor allem zurückkehren. Wochenlang haben Chagossier nun des 50. Jahrestages der Vertreibung gedacht, mit verschiedenen Aktionen und Gottesdiensten in Großbritannien und in Mauritius. Die heimliche Nationalhymne "Peros Vert" haben sie dort gesungen, die von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt.
Es ist die Rückkehr an diesen Sehnsuchtsort, von der Liseby Elysé träumt: "Ich möchte sterben, wo ich geboren wurde. Das habe ich schon gedacht, als ich damals auf dem Schiff nach Mauritius war. Ich war krank, habe mein Kind verloren - all das steckt tief in mir. Ich werde meine Insel nie vergessen."