Situation im Gazastreifen Ägyptens Angst
In Kairo ist man besorgt, dass Hunderttausende Palästinenser als letzten Ausweg aus dem Gazastreifen den Weg nach Ägypten suchen. Denn, so das Argument, ein großer Flüchtlingsstrom würde das Land vor enorme Herausforderungen stellen.
Ein Geheimnis macht Abdel Fattah al-Sisi aus seiner Position nicht: Hilfe nach Gaza schicken ja, aber einen Massenexodus aus dem Gazastreifen in Richtung Sinai-Halbinsel? Nein, das will der ägyptische Präsident auf jeden Fall verhindern. "Wir sind sehr daran interessiert, dass Hilfe den Gazastreifen in dieser schwierigen Zeit erreicht. Doch für den Gazastreifen besteht eine sehr große Gefahr. Es ist wichtig, dass das palästinensische Volk auf seinem Land standhaft bleibt. Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um es zu entlasten."
Das Argument Ägyptens in Richtung Palästinenser: Würden alle Menschen den Gazastreifen verlassen, könnte Israel das Land übernehmen - und das gelte es schließlich zu verhindern.
Zivilisten im Gazastreifen als politischer Spielball genutzt
"Es ist sehr zynisch, das zu sagen", sagt Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung. "Hier sitzen Millionen von Menschen, die berechtigt eine sehr große Angst haben." Sie würden von allen Seiten als politischer Spielball benutzt - die Interessen des jeweiligen Landes gingen stets über humanitäre Interessen.
Die ägyptische Angst: Hunderttausende Palästinenser, die als letzten Ausweg aus dem Gazastreifen den Weg nach Ägypten sehen. Der Grenzübergang ist der einzige, der nicht von Israel kontrolliert wird. In der Vergangenheit kamen bereits mehrmals Zehntausende Palästinenser von Gaza nach Ägypten, jedoch nur für einen kurzen Zeitraum.
Ein weiteres Mal will Ägypten verhindern, denn die Erfahrungen aus Ländern wie Jordanien und Libanon zeigen, dass die Palästinenser dauerhaft bleiben könnten. In Jordanien leben nach UN-Angaben mehr als zwei Millionen Palästinenser.
Sorge auch vor Terroristen
Für das wirtschaftlich stark angeschlagene Ägypten, das unter anderem bereits viele Flüchtlinge aus dem Sudan beherbergt, wäre das eine große Herausforderung, so Mourad Hegazy von der ägyptischen Zeitung "Mada Masr".
Das Szenario, vor dem die ägyptische Regierung große Angst hat, ist, dass hunderttausende Palästinenser kommen. Dann wäre Ägypten für diese Menschen verantwortlich, müsste Aufnahmezentren aufbauen, sich um Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung kümmern. Und müsste verhindern, dass sich die Menschen in großer Zahl überall in Ägypten ansiedeln.
Und es geht nicht nur um die Bewältigung einer Flüchtlingskrise, sondern auch um mögliche Terroristen, die aus Gaza nach Ägypten kommen könnten. Seit Jahren hat die ägyptische Staatsführung Schwierigkeiten, den Norden der Sinai-Halbinsel zu kontrollieren, auch weil das Kontingent ägyptischer Soldaten auf dem Sinai durch den Friedensvertrag mit Israel beschränkt wurde.
Der Norden des Sinai gilt seit längerem als instabil und als Rückzugsgebiet militanter Islamisten. "In den Tunneln nach Gaza wurden Waffen geschmuggelt", so Hegazy, "und Ägypten hat immer Angst, dass Bewaffnete diese Tunnel nutzen, um gegen die ägyptische Armee zu kämpfen."
Hamas gilt als Ableger der Muslimbruderschaft
Die ägyptische Staatsführung geht seit Jahren mit harter Hand gegen die Muslimbruderschaft vor, die Hamas gilt als einer ihrer Ableger. Auch wenn sich die Hamas von der Muslimbruderschaft distanzierte und sich Ägypten seit einiger Zeit mit der Hamas arrangiert habe, bestehe in Ägypten "ganz klar die Befürchtung, dass extremistische Akteure nach Ägypten kommen", sagt Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Schon jetzt besteht der Verdacht, dass der ägyptische Grenzübergang heimlich zum Waffenschmuggel Richtung Gaza genutzt wurde. Unklar sei, inwieweit Ägypten dies zumindest toleriert habe, sagt Roll.
Der Westen versucht, Ägypten umzustimmen
Westliche Diplomaten versuchen nun, Ägypten in der Flüchtlingsfrage zu einem Umdenken zu bewegen. US-Außenminister Antony Blinken sprach in Doha mit dem ägyptischen Staatschef, und Außenministerin Annalena Baerbock hat sich auf den Weg nach Kairo gemacht.
Am Ende dürfte es auch darum gehen, was Ägypten angeboten wird: "Ich denke, dass hier momentan ein Stück weit über den Preis verhandelt wird", so Roll. "Ägypten steht wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand, steckt in einer schweren Schuldenkrise, ist auf jeden Dollar angewiesen. Insofern denke ich, dass hier gerade verhandelt, wenn nicht gar gepokert wird."
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR hat bereits erklärt, es stehe für eine Unterstützung Ägyptens bereit, um Flüchtlinge zu versorgen. Wenn sie denn kommen dürfen, die verzweifelten Zivilisten aus Gaza.