Zehn Jahre nach Massenentführung Die Kidnapping-Industrie von Boko Haram
Vor zehn Jahren verschleppte die Terrormiliz Boko Haram in Nigeria mehr als 270 Schülerinnen. Bis heute sind nicht alle befreit - und Entführungen zum Geschäftsmodell wetteifernder Banden geworden.
Den größten Schmerz verursacht vielleicht diese Ungewissheit. Eine Ungewissheit, mit der auch Nkeki Muttah jeden Morgen erwacht - seit zehn Jahren. Er ist einer von Dutzenden Menschen in Nigeria, die noch immer bangen und hoffen, dass sie eines Tages ihre Angehörigen wieder in die Arme schließen können: "Unsere Allerliebsten, unsere Kinder befinden sich in den Händen von irgendjemand. Ob sie tot sind oder noch am Leben, das wissen wir nicht."
Vor zehn Jahren haben Boko-Haram-Terroristen zwei Nichten des Mannes entführt. Die Angreifer kamen im Schutz der Dunkelheit. Sie drangen mitten in der Nacht vom 14. auf den 15. April 2014 in ein Internat in der Kleinstadt Chibok ein, als Soldaten der Armee verkleidet. Insgesamt 276 Mädchen überraschten sie im Schlaf, zwangen sie auf Lastwagen und in Autos und verschleppten sie an einen unbekannten Ort.
90 Entführte weiter vermisst
Der Aufschrei des Entsetzens damals war weltweit zu hören: Jeder kannte auf einmal den Namen Boko Haram. Michelle Obama, damals US-Präsidentengattin, hielt wie viele andere ein Schild mit dem Hashtag "Bring back our girls", "Bringt unsere Mädchen zurück", in die Kameras. Die USA schickten Militär- und Polizeikräfte nach Nigeria. Einigen Mädchen gelang die Flucht, viele andere kamen nach Verhandlungen zwischen Regierung und Terroristen frei.
Bis heute aber sind nicht alle Mädchen heimgekehrt, mehr als 90 von ihnen werden weiter vermisst. Nkeki Muttah klagt an: "Die Regierung hat nicht den Willen, diese Mädchen zu ihren Eltern zurückzubringen."
Schwer zu leugnen ist: Die Regierung Nigerias hat es in den letzten zehn Jahren weder vermocht, den Boko-Haram-Terroristen das Rückgrat zu brechen, noch, die Entstehung einer regelrechten Kidnapping-Industrie zu verhindern.
Entführungen als Geschäftsmodell
Der Überfall von 2014 ist mittlerweile vielfach kopiert worden. Heute ist es eine toxische Mischung aus islamistischen Terroristen und kriminellen Banden, die in Entführungen ein makaberes Geschäftsmodell gefunden haben, wie der nigerianische Sicherheitsexperte Kabir Adamu erläutert.
"Es gibt eine politische Komponente. Sie versuchen, die Regierung bloßzustellen. Zweitens finanzieren sie durch erpresstes Lösegeld ihre Operationen", sagt Adamu. Auch gebe es mittlerweile eine Art kriminellen Wettkampf: Die Anführer dieser Banden versuchten, sich mit Massenentführungen gegenseitig zu übertrumpfen und so einen Imagegewinn unter ihresgleichen zu erzielen.
Boko Haram weiter aktiv
Was Boko Haram betrifft, so sollte man nicht dem Trugschluss erliegen, die Terroristen seien weniger aktiv, nur weil sie nicht mehr dieselben Schlagzeilen wie 2014 produzieren, gibt der Westafrika-Experte Vincent Foucher der Organisation Crisis Group zu bedenken - auch wenn sich die Terrorgruppe in zwei verfeindete Lager aufgespalten hat.
Eines dieser Lager verbündete sich daraufhin mit der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), der vor allem in Nachbarländern wie Niger oder Mali aktiv ist. Gerade dieser Arm sei nach wie vor extrem mächtig, mahnt Foucher: "Der 'Islamische Staat' sendet Geld, er sendet Berater, er sendet Trainer."
Zudem machen es die extreme Armut auf dem Lande, der durch das Bevölkerungswachstum verschärfte Konkurrenzkampf, das erbitterte Ringen um Ressourcen den Dschihadisten leicht, weiter Nachwuchs unter frustrierten Jugendlichen zu rekrutieren. "Sie sind weiter da und präsent. Und solange die Ursachen nicht beseitigt sind, wird die Gruppe auch weiter bestehen bleiben", meint Ulf Laessing von der Konrad-Adenauer-Stiftung im malischen Bamako.
Nun war es der Armee Nigerias, eine der schlagkräftigsten ganz Afrikas, in den letzten Jahren gelungen, einige Städte dem Griff von Boko Haram zu entwinden. Trotzdem bleibt die Lage laut Foucher vertrackt: "Die Regierung hat stark in Drohnen, in Flugzeuge, in Helikopter investiert. Sie kann deshalb wichtige Städte halten. Aber in die Wälder zu gehen und die Dschihadisten dort zu bekämpfen, ist ein Problem." Ganze Landstriche werden also weiter von den Milizen kontrolliert.
Zunehmende Vernetzung der Terroristen
Zudem vernetzen sich die Terroristen in Westafrika offenbar zunehmend untereinander. Das beweist das IS-Zweckbündnis mit dem einen Arm von Boko-Haram - und die AlKaida-Verbindung mit dem anderen Boko-Haram-Lager. Insgesamt, da sind sich die Experten einig, sind die Extremisten im westafrikanischen Krisengürtel dabei, ihren Einflussbereich weiter auszudehnen.
Die zentralen Sahel-Staaten erlebten laut Erhebung der Organisation "Armed Conflict Location and Event Data Project" 2023 ein neues Rekordjahr der Gewalt: "Weite Teile von Burkina Faso sind außerhalb der Kontrolle der Regierung. In Mali schafft es die Armee kaum, die Dschihadisten zu verdrängen. Und auch im Niger geht aktuell die Zahl der Anschläge hoch", beschreibt Laessing die Lage im Sahel. Zudem versuchen die Terrorgruppen, sich auch in weitgehend stabilen Küstenstaaten zu etablieren, in Richtung Elfenbeinküste oder Senegal. Auch zehn Jahre nach der Massenentführung durch Boko Haram in Nigeria blickt die Welt also, wenn sie nach Westafrika schaut, auf eine Krisenregion.
In welcher Blüte die Entführungsindustrie in Nigeria weiter steht, beweisen zwei Vorfälle von Anfang März: Dabei wurden mehr als 130 Kinder verschleppt. Es rief Erinnerungen an Chibok vor zehn Jahren wach. Mittlerweile sind in diesem Fall alle Kinder befreit. Die Hoffnung, dass auch die Angehörigen der in Chibok entführten Mädchen ihre Liebsten eines Tages wiedersehen können, schwindet nach jetzt zehn Jahren immer mehr.