Ägypten Die "stumme Wut" droht laut zu werden
In Ägypten schwelt der Unmut. Und bei der Regierung wächst die Sorge vor weiteren Protesten - wie im September, wie 2011. Die Staatsführung versucht, ein Aufbegehren im Keim zu ersticken.
Wieder stehen sie an Brücken, Kreuzungen, unter Bäumen, vor Kiosken rund um den symbolträchtigen Tahir-Platz. Mitarbeiter des Sicherheitsapparats in ziviler Kleidung, mit Sonnenbrille und Handy. An den Zufahrtswegen zum und auf dem Platz stehen Mannschaftswagen der Polizei, einige mit Blaulicht.
Massive Polizeipräsenz. Die Nervosität ist greifbar. Im Visier haben sie vor allem junge Männer. Immer wieder werden sie angehalten, kontrolliert, befragt. Oft müssen sie auch ihre Handys herausgeben und alle Daten offenlegen. Kritische Einträge bei Facebook oder Twitter reichen oft schon für eine Festnahme, wie Rechtsanwälte erzählen. Etwa 2000 Menschen seien in den vergangenen zwei Wochen festgenommen worden, mindestens sechs Journalisten, auch Anwälte.
Proteste im Keim erstickt
Es ist die harsche Reaktion des Staates auf Proteste in Kairo und anderen Städten Ägyptens am 20. September. Offenbar haben sie den Sicherheitsapparat unvorbereitet getroffen. Es waren die ersten Demonstrationen seit Jahren. Die Bilder gingen um die Welt. Hunderte forderten lautstark den Rücktritt von Präsident Abdul Fattah al-Sisi. Die Polizei griff mit Tränengas und Gummigeschossen durch und hat seither jeden Protest im Keim erstickt.
Im September zogen die Menschen durch Kairos Innenstadt und protestierten gegen die Staatsführung. Seitdem gab es keine Proteste dieses Ausmaßes mehr.
"Auch Hitler hatte seine Fehler"
Auslöser waren Internet-Videos des ägyptischen Bauunternehmers Mohamed Ali. Er warf al-Sisi aus seinem spanischen Exil Korruption und Misswirtschaft vor, rief mehrfach zu Massenprotesten auf. Damit traf er offenbar einen Nerv.
Der Präsident sah sich genötigt, die Vorwürfe umgehend zurückzuweisen und attackierte die Medien für ihre Berichterstattung: "Das Bild, das vermittelt wurde, ist voll von Lügen und Verleumdungen, um die Menschen zu täuschen", so al-Sisi: "Die Ägypter sind weise genug, das nicht zu glauben."
Parlamentspräsident Ali Abdel Aal versuchte sich in einem abenteuerlichen Vergleich, um die Wogen zu glätten:
Auch Hitler hatte seine Fehler. Aber er schuf eine starke Infrastruktur, die es ihm ermöglichte nach Osten und Westen zu expandieren.
Angst vor einer neuen Revolution
Die Sorge der Regierung scheint groß, dass sich die Proteste von 2011 wiederholen könnten. Damals hatten sich auf dem Tahir-Platz Hunderttausende versammelt und nach wochenlangen Demonstrationen den Sturz von Langzeitpräsident Husni Mubarak erzwungen.
Die Träume der Demonstranten haben sich allerdings nie verwirklicht. Nach den ersten freien Wahlen in Ägypten kam mit Mohammed Mursi ein Vertreter der Muslimbrüder in den Präsidentenpalast. 2013 griff schließlich Feldmarschall al-Sisi nach der Macht, ließ Mursi festsetzen und die Muslimbruderschaft verbieten. Seither regiert er mit harter Hand.
Die Presse- und Meinungsfreiheit seien weitgehend abgeschafft, berichten die "Reporter ohne Grenzen". 60.000 Menschen sollen in Gefängnissen sitzen, Hunderte Todesurteile wurden verhängt. Mindestens 1700 Menschen seien seit 2015 ohne jedes Gerichtsverfahren verschwunden, wie Amnesty International meldet.
Präsident Abdul Fattah al-Sisi regiert seit 2013 mit harter Hand.
"Unser Leben ist zerstört"
Für die Familien ist das oft ein schwerer Schicksalsschlag. Osama erzählt, dass sein Bruder Hadi am 28. März spurlos verschwand. Niemand weiß, wo sich der 22-Jährige aufhält, ob er noch lebt. "Wir werden uns nie daran gewöhnen können", meint Osama. "Unser Leben ist zerstört. Meine Eltern sind krank geworden."
Hadi habe 2013 gegen die gewaltsame Räumung eines Protestcamps demonstriert. Dafür habe er bereits einmal in Haft gesessen, erzählt sein Bruder. Warum Hadi jetzt entführt wurde, weiß Osama nicht. Ob er je zurückkommt, ebenso wenig.
Zwei Drittel der Ägypter an oder unter der Armutsgrenze
Der harte Durchgriff des Staates mag ein Auslöser der Proteste sein. Der andere ist die Armut. Laut Weltbank sind etwa zwei Drittel der Ägypter arm oder armutsgefährdet - die Folge einer dramatischen Abwertung des ägyptischen Pfunds und von harten Sparmaßnahmen.
So hat sich über die Jahre Wut angestaut. "Diese Wut war stumm, aber doch absehbar. Seit mindestens einem Jahr gab es etliche Hinweise darauf", meint der Menschenrechtsanwalt Negad Borai. "Die Mittelschicht stand unter Druck, in die Armut abzurutschen, die Armen in extreme Armut", so Borai. Die soziale Ungleichheit sei zudem extrem. 90 Prozent des Vermögens liege in den Händen von fünf Prozent der Bevölkerung.
Nun hat die Regierung eilig gegengesteuert. Erstmals seit Jahrzehnten hat sie die Benzinpreise um etwa drei Prozent gesenkt. Ob das reicht, die Gemüter zu besänftigen, ist fraglich.
Trotz eines ausgefeilten Spitzelsystems scheint der Sicherheitsapparat bei der Frage im Dunkeln zu tappen, wer genau hinter den Protesten steckt. Die Wut der Menschen ist einer spezifischen Gruppe schlecht zuzuordnen. "Jederzeit kann wieder etwas Unerwartetes passieren", sagt Negad Borai. Wohl deshalb sind Regierung und Polizei in diesen Tagen so nervös. Es ist die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren und aus dem Amt gefegt zu werden. So wie einst Mubarak.