Portrait: Wolf-Georg Winkler, Rechtsanwalt Dresden
Wolf-Georg Winkler ist Rechtsanwalt für Straf- und Versammlungsrecht in Dresden. Er sieht §129 StGB kritisch, denn immer dann, wenn Menschen gemeinschaftlich Straftaten begehen, könne mit etwas Fantasie auch eine kriminelle Vereinigung konstruiert werden. Bildrechte: Wolf-Georg Winkler

§129 StGB Herr Anwalt, ab wann ist eine Vereinigung kriminell?

02. Juni 2023, 09:03 Uhr

Lina E. und ihre Mitangeklagten sind auch wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurden. Doch was bedeutet das genau? Kritiker bezeichnen den §129 StGB als Gesinnungsparagraphen, mit dem einfache Kontaktpersonen verurteilt und gesamte politische Einstellungen kriminalisiert werden. Wie wird der §129 StGB angewandt? Wer bestimmt, was kriminell und terroristisch ist? Wir haben den Rechtsanwalt Wolf-Georg Winkler gefragt.

Herr Winkler, ab wann ist eine Vereinigung kriminell?

Wolf-Georg Winkler: Die Frage, die zuerst gestellt werden muss, lautet: Ab wann hat man es mit einer Vereinigung zu tun? Eine Vereinigung ist nach §129 Absatz 2 ein auf längere Dauer angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten Interesses. Dafür braucht es keine kontinuierlichen Mitglieder und keine festen Rollen in der Organisation, jeder kann rein und rausgehen. Ein gemeinsames übergeordnetes Interesse kann allerdings in der Regel alles sein.

Doch für eine Einstufung als kriminelle Vereinigung müssen die Taten kriminell sein?

Ja, natürlich. Kriminell ist die Vereinigung dann, wenn ihre Mitglieder gemeinsame Straftaten anstreben und verüben, die im Höchstmaß mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. Das umfasst eigentlich alles von der Körperverletzung bis zur Sachbeschädigung.

Dann könnte auch eine randalierende Jugendclique eine kriminelle Vereinigung sein?

Das wäre theoretisch möglich, wenn entsprechende Absprachen nachgewiesen würden. Für solche Konstellation - eine Gruppe, die Straftaten begeht - gibt es ja eigentlich schon den Begriff der Bande. Zwischen einer Bande und einer kriminellen Vereinigung lässt es sich nur schwer abgrenzen. Als ungeschriebenes Merkmal gilt, dass von einer kriminellen Vereinigung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen muss. Wie das konkret bewertet wird, ist allerdings Ermessenssache.  

Gerade wird gegen die "Letzte Generation" als kriminelle Vereinigung ermittelt. Das würde ja bedeuten, dass die Klimaaktivisten - Menschen, die sich mit Sekundenkleber festkleben - eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sind? Ist das nicht übertrieben?

Wie gesagt, hier gibt es viel Ermessen, auch was die Bewertung einer Gefahr für die Öffentlichkeit betrifft. Manche Juristen sehen eine Gefahr für die Öffentlichkeit, wenn die Bevölkerung in besonderer Weise beunruhigt wird. Ob sich die Letzte Generation unter §129 StGB subsumieren lässt, ist unter Juristen umstritten. Die Tendenz geht jedoch dahin, dass das nicht ausgeschlossen ist.

Doch sagten Sie nicht, es brauche Straftaten und nicht nur eine beunruhigte Bevölkerung?

Ja. Im Fall der Letzten Generation könnte der - zugegebenermaßen recht milde - Straftatbestand der Nötigung greifen. Allerdings sehe ich das ziemlich kritisch.

Nötigung - was bedeutet das eigentlich konkret?

Laut §240 gilt als Nötigung, wenn jemand mit Gewalt oder einer Androhung von Gewalt eine bestimmte Handlung erzwingen will. Beim Aufkleben auf eine Straße würde man tatsächlich nicht auf die Idee kommen, dass das Gewalt ist. Doch nach der sogenannten Rechtssprechung der zweiten Reihe wird spätestens dem Auto in der zweiten Reihe Gewalt zugefügt, weil es blockiert ist und ihm keine andere Wahl bleibt.

Andererseits gilt das alles nicht, wenn die Tat nicht als verwerflich angesehen werden kann. Dies hat ja auch ein Richter in Berlin so gesehen: Weil die Klimaziele so relevant sind, ist die Nötigung nicht verwerflich. Die anderen wiederum sagen: Die Blockaden betreffen so viele, hier muss das Versammlungsrecht zurücktreten. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an, insbesondere spielen der Ort und die Dauer der Blockade eine entscheidende Rolle.

Der großen Ermessensspielraum gilt auch als Vorwurf bei der Anwendung des §129 StGB. Kritiker bezeichnen ihn als Gesinnungsparagraphen, mit dem Kontaktpersonen verurteilt und gesamte politische Einstellungen kriminalisiert werden…

Tatsächlich ist das so, dass der §129 in der Praxis eher im politischen Kontext angewendet wird, als in der organisierten Kriminalität. Schon oft in seiner Rechtsgeschichte nutzte man ihn zur Verfolgung politischer Gruppierungen, die als unliebsam galten. Der Paragraph stand bereits 1871 im Reichsstrafgesetz und wurde bei der Verfolgung der Kommunisten und Sozialisten verwendet. Später in der Bundesrepublik gab es Versuche, ihn auf Hausbesetzer anzuwenden. Dem hat der Bundesgerichtshof allerdings damals einen Riegel vorgeschoben. Auch in den vergangenen zehn Jahren fielen Verfahren unter die Anwendung des §129.

Eine Person wird durch die Polizei festgenommen, es wurden die Handschellen angelegt im Hintergrund sieht man den Streifenwagen der Polizei stehen.
Laut Rechtsanwalt Wolf-Georg Winkler wurde der §129 StGB in der Vergangenheit immer wieder angewandt, um unliebsame politische Gruppierungen zu verfolgen. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO/Fotostand

Welche Verfahren?

Zum Beispiel das Verfahren gegen die "Hooligans-Elbflorenz". Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass sich jeder mit gegenseitigem Einverständnis prügeln kann - wie damals geschehen. Doch der BGH erklärte schließlich, das sei sittenwidrig und stufte die Hooligans als kriminelle Vereinigung ein. Schon damals gab es erste Befürchtungen, was aus diesem Urteil gemacht wird.

Wie meinen Sie das?

Der Verdacht zur Bildung einer kriminellen Vereinigung wird zu umfangreichen Strukturermittlungen genutzt.

Das bedeutet?

Wenn Sie zur Bildung einer kriminellen Vereinigung ermitteln, können Sie alle Register der Ermittlungsarbeit ziehen, die es gibt: Telefonüberwachung, Verwanzen von Räumen, Online-Durchsuchung, Observation, Einsatz von V-Leuten - alles möglich. Deswegen, so lautet einer der häufigsten Vorwürfe, werde der Paragraph genutzt, um sich einen Überblick über eine Szene oder politische Gruppierungen zu verschaffen. Bekannt ist, dass die Ultras von Chemie Leipzig jahrelang abgehört worden sind - ohne dass es jemals zu einer Anklage gekommen ist.

Auch das "Zentrum für Politische Schönheit" in Berlin wurde überwacht. Ob Fußballfans, Klimaaktivisten, politische Gruppierungen - der §129 StGB liefert einen weiten Anwendungsbereich. Das ist das Problem. Gleichzeitig können Beschuldigte mit der vollen Härte des Gesetzes abgestraft werden. Hier liegt ein großes Missbrauchspotenzial.

Sie sagen, im Lina E.-Prozess sei nicht das Urteil das Problem, sondern die Anwendung des §129 StGB. Warum?  

Mich stört nicht die Verfolgung der Straftaten. Mich stört der ausufernde Anwendungsbereich des §129 StGB. Für einen liberalen Rechtsstaat ist es entscheidend, dass Strafnormen eng gefasst sind und nicht zu weit ausgelegt werden können - nur so kann Missbrauch vorgebeugt werden. Ermittlungen zur Bildung einer kriminellen Vereinigung verlagern den Strafbarkeitsvorwurf weit in die Vorbereitungshandlungen. Besorgen Sie also Informationen oder geben Sie Geld, auch wenn erst viel später festgelegt wird, was damit gemacht wird, unterstützen Sie eine kriminelle Vereinigung - das ist ein systematisches Problem.

Wären Sie für eine Streichung des §129?

Ja, wir brauchen ihn nicht zwingend. Das gemeinschaftliche Begehen von Straftaten wirkt sowieso schon strafverschärfend - hier drohen wie im Fall der gemeinschaftlich begangenen Körperverletzung bis zu zehn Jahren Haft. Wir brauchen den Paragraphen also nicht.

Auch die rechtsextreme "Gruppe Freital" ist nach dem §129 verurteilt worden. Ist es hier kein Problem?

Die rechtsextreme "Gruppe Freital" und auch "Revolution Chemnitz" sind nach §129a verurteilt wurden – also wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung.

Was ist hier der Unterschied?

Eine terroristische Vereinigung verübt schwere Straftaten wie Mord, Totschlag aber auch Völkermord und Brandstiftungsdelikte, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Die schweren Fälle fallen unter den §129a, wo Menschen erheblich verletzt oder getötet werden sollen.

Zählen darunter auch Brandanschläge auf Flüchtlingsheime?

Ja, das ließe sich darunter subsumieren.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 31. Mai 2023 | 20:00 Uhr

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