NRW nach der Türkeiwahl: Woher kommt die Euphorie?

Stand: 30.05.2023, 20:40 Uhr

Tausende vorwiegend junge Menschen feiern in NRW euphorisch den Wahlsieg des türkischen Präsidenten Erdoğan. Woher kommt die Begeisterung für einen autokratischen Machthaber?

Autokorsos in ganz NRW. Feuerwerke und Siegeszüge durch Köln, Düsseldorf, Duisburg oder Bielefeld. Vor allem junge Deutsch-Türken feierten am Sonntag bis spät in die Nacht den Wahlsieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. "Ich liebe Erdoğan über alles und für immer und ewig", rief eine junge Frau mit Türkei-Flagge in die Kamera. Doch woher kommt die Euphorie der jungen Menschen für ein autokratisches System?

Rund 1,5 Millionen Wahlberechtigte leben in Deutschland, davon allein 500.000 in NRW. Die Wahlbeteiligung im Land fiel deutlich höher aus, als bei der letzten Wahl 2018. In Köln stimmten bei der Stichwahl in diesem Jahr rund 69 Prozent für den Amtsinhaber und damit erheblich mehr als in der Türkei. In Düsseldorf, Essen und Münster waren es über 70 Prozent.

"Wir werden ganz anders behandelt, als diejenigen, die blonde Haare und blaue Augen haben." Sercan Güngör, Deutsch-Türke aus Düsseldorf
Erdoğan-Anhänger Sercan Güngör

Sercan Güngör, Deutsch-Türke aus Düsseldorf

Deutsch-Türke Sercan Güngör ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, sieht seine Zukunft aber immer mehr in der Türkei. "Weil Deutschland niemals gesagt hat, ihr gehört hierhin, ihr seid hier geboren und wir gehen mit euch so um, wie jeder, der hier geboren ist", sagt der Düsseldorfer. Erdoğan vermittle den jungen Menschen ein anderes Gefühl: "Er war derjenige, der hierhin gekommen ist und uns gesagt hat, ihr seid Türken, ihr seid hier geboren und ihr könnt euch wie Türken fühlen."

Die Hoffnung: Erdoğan bringt das Land voran

Sena Özkan richtet den Blick auf die Türkei, glaubt daran, dass Erdoğan das Land voranbringen wird: "Die ganzen Straßen, Brücken, Krankenhäuser alles wurde dank ihm gemacht und wir erwarten weiterhin dieselbe Energie, dieselbe Leistung die er in das Volk reinbringt", so die junge Deutsch-Türkin.

Özdemir: "Absage an die Demokratie"

Kritik an den Feierlichkeiten kam unter anderem von Bundes-Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). "Da wird ja gefeiert, dass ein autoritärer Herrscher eine Wahl gewinnt, der in seinem Land foltern lässt, der Oppositionelle ins Gefängnis werfen lässt", sagte der Politiker. Das sei eine Absage an die Demokratie.

"Das ist kein türkisches Problem, sondern ein deutsches." Eren Güvercin, Gründungsmitglied der Alhambra Gesellschaft für Völkerverständigung
Eren Güvercin, Journalist und Rechtswissenschaftler

Eren Güvercin, Gründungsmitglied der Alhambra Gesellschaft für Völkerverständigung

Eren Güvercin, Gründungsmitglied der Alhambra Gesellschaft für Völkerverständigung, gibt ihm recht: "Man kann nicht in einer liberalen Demokratie leben, von den Vorzügen der Freiheitsrechte hier in Deutschland profitieren aber auf der anderen Seite ein autokratisches System unterstützen, das die Grundfreiheiten in der Türkei abschafft", sagt der Journalist und Rechtswissenschaftler und sieht Gesprächsbedarf. "Denn das ist kein türkisches Problem, sondern ein deutsches."

Wettbewerb um die Köpfe der jungen Menschen

Schließlich gehe es vor allem um junge Menschen der dritten oder vierten Generation in Deutschland. "Die sprechen meist besser Deutsch als Türkisch", so Güvercin. Trotzdem seien sie überzeugte Anhänger der Ideologien Erdoğans. Die Mischung aus völkischem Nationalismus und einer islamistischen Gesinnung sei sehr attraktiv für die jungen Menschen. "Er vermittelt ihnen, etwas Besonderes zu sein."

In Deutschland sei jahrelang nicht wahrgenommen worden, dass die politischen Entwicklungen in der Türkei auch unmittelbar in die türkischen Communities hierzulande hineinwirken. Erdoğan habe früh erkannt, dass es einen Wettbewerb gebe um die Köpfe und Herzen der jungen Menschen. Damit müsse sich die deutsche Politik nun selbstkritisch auseinandersetzen, fordert Güvercin.

Stadt-Land-Gefälle

Dazu sei die große Erdoğan-Anhängerschaft in NRW auch auf ein Stadt-Land-Gefälle in der Türkei zurückzuführen, erläutert Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkei- und Integrationsstudien. "Deutschland ist ein kleines Abbild Anatoliens, nicht Istanbuls, nicht Izmir. Nicht der Ägäis, nicht der Mittelmeerregion, wo die Opposition gewinnt." Im Zuge der Arbeitsmigration seien solche Milieus nach Deutschland eingewandert, hätten hier ihre Organisationsstrukturen aufgebaut. "Sie sind leicht zu mobilisieren", sagt Ulusoy.

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